Luftverschmutzung: Die Feinstaub-Grenzwerte sind nicht aus der Luft gegriffen
Lungenärzte bezweifeln den Sinn von Grenzwerten bei Feinstaub. Nun wird gestritten: Geht es um Vorsorge oder politische und wirtschaftliche Interessen?
Dieser Tage erreichte den Tagesspiegel der Brief eines pensionierten Schornsteinfegers. Die Zeitung hatte über die von einer Gruppe Lungenärzte geäußerten Zweifel an den wissenschaftlichen Grundlagen der Grenzwerte für Feinstaub und Stickoxide berichtet. Der Inhalt des Leserbriefes, in gekürzter Form: Ich habe 50 Jahre lang Kamine gekehrt, Riesenmengen von dem Zeug eingeatmet, ich bin jetzt über 80, meine Lunge ist aber völlig Ordnung.
Man kann unseren Schornsteinfeger beglückwünschen – und ihm wünschen, dass er noch viele Jahre, ohne aus der Puste zu geraten, die fünf Treppen, von denen er auch schrieb, zu seiner Wohnung schafft. Dass Feinstaub nicht ungesund - oder gar gesund – ist, kann man aber aus seinem Fall nicht ableiten.
Dass jene Gruppe, die die wissenschaftliche Basis der Feinstaubgrenzwerte in Zweifel zieht und sich zum Großteil aus Lungenärzten zusammensetzt, ein Haufen von der Autoindustrie gekaufter Halunken ist – so der Tenor einiger anderen Leserzuschriften an jenem Tag – allerdings auch nicht.
Fakten und alternative Fakten
Der Kern der Kritik bestand auch nicht in der Behauptung, Feinstaub sei nicht gesundheitsschädlich. Eher darin, dass man darüber nicht genug weiß und dass das, was man aus den wissenschaftlichen Daten wissenschaftlich seriös ableiten kann, die derzeit geltenden Grenzwerte nicht rechtfertigt. Er bestand im Grunde darin, dass die Grenzwerte, weil Fakten fehlen, auf alternativen Fakten beruhen.
Grenzwerte für Stoffe, denen Menschen ausgesetzt sein dürfen, sind an sich ein hohes Gut. Sie kommen aus der Arbeitswelt, beziehungsweise dem Arbeitsschutz. Den gibt es in einer Weise, die den Namen verdient, in Deutschland noch nicht viel länger als 100 Jahre. Grenzwerte, etwa für Silikatstaub oder Asbestfasern im Bergwerk oder Stickoxide in der Fabrik sind noch einmal deutlich jünger.
Und erst lange danach kamen die Grenzwerte für die Fußgängerampel und den Balkon an der Leipziger Straße.
Die Grenzwerte für den Arbeitsplatz in der Bundesrepublik kommen seit den 50er Jahren auf der Grundlage von Empfehlungen einer Kommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem dem „Ausschuss für Gefahrstoffe“ zustande, dem etwa Industrie- und Arbeitnehmervertreter angehören. Zuständig ist das Arbeitsministerium.
Ein Abwägungsprozess auf europäischer Ebene
Die aktuell diskutierten Grenzwerte für Konzentrationen in der Umwelt sind dagegen Ergebnis noch deutlich komplexerer politischer Abwägungsprozesse auf europäischer Ebene. Zur Abwägung gehört hier neben wissenschaftlichen Studien zu möglichen Gesundheitsrisiken die Emissions-Situation in Orten aller Staaten der Union.
Die Frage, ob es überhaupt in wirtschaftlich verträglicher Weise überall möglich ist, Grenzwerte einzuhalten, spielt hier eine wichtige Rolle. Dass nach 2010 etwa die Stickstoffdioxid-Grenzwerte gesenkt wurden, war eher nicht das Ergebnis einer Neubewertung der Gesundheitsrisiken, sondern vor allem ein politischer Akt, ein Signal: Die EU tut was für Umwelt und Gesundheit. Die Umsetzung schien ohne große Schmerzen möglich, weil seit den 90er Jahren die gemessen Werte ohnehin kontinuierlich zurückgegangen waren.
Schadstoff-Grenzwerte sind selten das, was wünschenswert wäre, oder unterhalb derer das Erkrankungsrisiko bei Null läge. Sie sind meist Werte, die man ohne an Grenzen zu stoßen einhalten kann. Sie sind Musterschüler des politischen, marktkonformen Pragmatismus. Das absurdeste, und vom Diesel und seiner wirtschaftlichen Bedeutung nicht so weit entfernte Beispiel ist Benzin.
Es enthält noch heute etwa ein Prozent Benzol, einen hochkrebserregenden Stoff. Der Sprit, den jeder Benziner braucht und dessen Benzoldämpfe an Tankstellen trotz aller Absaugtechnologie nach wie vor messbar und riechbar in der Luft schweben, gilt deshalb offiziell als „krebserzeugend“. Benzin, und damit der Ottomotor, müsste eigentlich für die Nutzung durch die Allgemeinheit verboten sein.
Doch die Gefahrenstoffverordnung nimmt diese Kraftstoffe von allen Beschränkungen aus. Wo kämen wir sonst hin? Nirgends mehr, jedenfalls nicht mit so einem Auto. Ein Unterschied zwischen Benzol und Feinstaub und Stickoxiden ist aber der, dass Menschen an letztere evolutionär gleichsam gewöhnt sind – ähnlich wie an Ozon übrigens, oder tierische Fette in der Nahrung.
Das Vorsorgeprinzip
Seit wir Feuer nutzen, und das sogar in Höhlen und Häusern, atmen wir sie ein. Es sind sogar genetische Anpassungen an den Umgang und die Essenszubereitung mit Feuer nachgewiesen, die uns weniger krankheitsanfällig machen. Das ist nun aber ein Problem für Experimente zur Schädlichkeit, denn für die zieht man keine Menschen heran, sondern eher Mäuse.
Die aber machen eher selten Feuer und sind deshalb hier kein gutes Modell. Auch solche Studien sind aber – zusammen mit Beobachtungsstudien an großen Menschengruppen, aus denen es unmöglich ist, ursächliche Zusammenhänge abzuleiten – Basis für die Festlegung der Grenzwerte. Ein Argument für strenge Grenzwerte ist das Vorsorgeprinzip. Vor allem wenn man – was ja auch die Kernbotschaft jenes Briefes war – schlicht nicht weiß, ab wann das Zeug gefährlich wird.
Das würde stimmen, wenn die Motoren schwiegen. Tun sie aber nicht, es kommen nur neue hinzu: Woran Menschen nicht gewöhnt sind, ist Ultrafeinstaub. Der entweicht ironischerweise gerade jenen neuen, modernen Aggregaten, die EU-normgerecht weniger des „konventionellen“ Feinstaubs auspusten.
Dass es Ultrafeinstaub in größeren Mengen überhaupt gibt, ist also auch Folge der Grenzwerte. Er ist ultraleicht, mit den Messstationen kaum messbar – und bleibt dauerhaft in der Luft, während größere Partikel zumindest zu Boden fallen und weggespült werden. Er kann sehr tief in die Lunge eindringen und wohl auch in Blut- und Körperzellen aufgenommen werden.
Was für gesundheitliche Folgen er haben kann, weiß niemand. Erste Hinweise sind eher beunruhigend. Unser Schornsteinfeger kann wahrscheinlich froh sein, dass er von Ultrafeinstaub weitgehend verschont blieb.