Debatte um Grenzwerte: Staub als Ideologie
Nachdem Zweifel an Feinstaub-Grenzwerten geäußert wurden, folgt die politische Instrumentalisierung. Die Bundesregierung ist sich dabei uneins.
Die Kritik von Lungenärzten an den Grenzwerten für Luftschadstoffe verschärft den Konflikt in der Bundesregierung. Während Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) eine europäische Debatte über ein Aussetzen der Grenzwerte verlangte, warnte SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach vor dem Schritt. Umweltministerin Svenja Schulze (SPD) sprach von einem „Ablenkungsmanöver“ und kritisierte die Mediziner. Es gebe „kein Grenzwertproblem, sondern ein Diesel- und Verkehrsproblem, das wir zum Beispiel mit Hardwarenachrüstungen lösen können“, sagte sie dem „Handelsblatt“. Die Grünen verteidigten das Limit, Politiker aus Union, FDP und AfD stellten sich auf die Seite der Kritiker.
Zuvor hatten mehr als 100 Lungenspezialisten um den ehemaligen Fachgesellschaftspräsidenten Dieter Köhler Zweifel am Nutzen der Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub geäußert. In ihrer Stellungnahme kritisierten sie die Methodik aktueller Studien und forderten eine Neubewertung. „Wenn über 100 Wissenschaftler sich zusammenschließen, ist das schon einmal ein Signal“, erklärte Scheuer in der ARD. „Wir können nicht länger zulassen, dass Mobilität und Schlüsselindustrien leiden, weil rein ideologische Festsetzungen verfolgt werden“, sagte FDP-Chef Christian Lindner. Der AfD-Verkehrsexperte Dirk Spaniel meinte, „dass erst auf Druck einer ganzen Armada von Fachärzten Druck auf die absurde Grenzwertpolitik von Union und SPD ausgeübt“ werde.
Lauterbach kritisiert die Mediziner
Lauterbach nannte den Vorstoß der Lungenfachärzte erstaunlich und „nicht nachvollziehbar“. Wissenschaftlich gesehen bezögen die Mediziner damit „eine völlige Außenseiterposition“, sagte er dem Tagesspiegel. Zudem seien Grenzwerte nicht nur gesetzt, um die Lunge zu schützen. Es gehe auch um Herzinfarkt und Schlaganfall. Dass Stickoxide und Feinstaub die Blutgefäße schädigten, bei Kindern zu Entwicklungsstörungen und bei älteren Menschen zu Demenz führten, sei international „komplett unstrittig“. Mit ihrem Vorstoß hätten die Mediziner die Bevölkerung stark verunsichert.
Lauterbach verlangte von Gesundheitsminister Jens Spahn, dieser Verunsicherung zu begegnen und die Gesundheitsgefahren durch Feinstaub und Stickoxide allen nochmal zu verdeutlichen. Es könne nicht sein, sagte er, „dass die Autohersteller Nachrüstungen verweigern und wir die medizinische Faktenlage verdrehen, nur um Fahrverbote zu vermeiden“.
Im Gesundheitsministerium hält man sich bedeckt: Man sei „interessiert daran, dass die Gefahren durch Stickoxide und Feinstaub wissenschaftlich korrekt eingeordnet werden und die Diskussion versachlicht wird“, sagte ein Sprecher. Für weitere Einschätzungen sei das Umweltministerium zuständig.
Dieses wies die Kritik an den Grenzwerten zurück. Es sei wissenschaftlich belegt, dass die Schadstoffe „die Lebenszeit verkürzen“ und „Krankheiten befördern“, sagte ein Sprecher. Mit den Grenzwerten verfolge man das Ziel, den Bürgern jederzeit und allerorts hohe Luftqualität zu garantieren. „Gesunden Menschen genauso wie Menschen mit Asthma, älteren Menschen oder Kleinkindern, die besonders empfindliche Atemorgane haben.“
EU-Umweltkommissar verteidigt Grenzwerte
Die geltenden Grenzwerte beruhten auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen, die „einer wissenschaftlichen Überprüfung unterzogen wurden“, versicherte auch EU-Umweltkommissar Karmenu Vella. „Tatsache ist, dass wir leider die Folgen im Lebensalltag hunderttausender Menschen beobachten können, jung und alt, in Städten überall in Europa, die mit den Gesundheitsfolgen schlechter Luftqualität zu kämpfen haben.“ Die Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub sind Grundlage für mögliche Fahrverbote auf deutschen Straßen und gelten bereits seit 2010. In der EU gilt für Stickstoffdioxid ein Jahresmittelwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter, für Feinstaub sind es Werte je nach Partikelgröße. Nach einem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts können Kommunen, in denen die Werte überschritten werden, Fahrverbote gegen Dieselautos verhängen.
Die Organisation Lobbycontrol wies darauf hin, dass der Aufruf nicht nur von Lungenfachärzten stamme, sondern von einem früheren Daimler-Beschäftigten mitverfasst wurde. Dabei handle es sich um den ehemaligen Motorenentwickler Thomas Koch, der mehr als zehn Jahre für das Unternehmen tätig gewesen sei.
Charité sieht weiteren Forschungsbedarf
Mit ihrem Vorstoß stellten sich die Lungenärzte auch gegen ein Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), das 2018 veröffentlicht worden war. Einer der Autoren, der Charité-Pneumologe Christian Witt, wies die Kritik gegenüber dem Tagesspiegel zurück. „Es sind kohärente Erkenntnisse und egal, ob ich mit chinesischen, amerikanischen oder brasilianischen Kollegen rede, alle sagen dasselbe: mehr Schadstoffbelastung macht die Kranken kränker.“ Es handle sich nicht um einfache Ursache-Wirkungsbeziehungen wie bei Masern und Masernviren, sondern „um sehr komplexe Krankheitsmodelle, die zum Teil nicht einfach zu verstehen sind.“
Dass es noch Forschungsbedarf gebe, räumt aber auch Witt ein. „Die Lücke zwischen den epidemiologischen Studien und der klinischen Medizin muss geschlossen werden.“ Man müsse neue Untersuchungsmodelle entwickeln, etwa um besonders anfällige Gruppen identifizieren zu können. Solche Studien gebe es in Stuttgart und auch in Berlin bereits.
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