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Auf der re:publica wird in die Zukunft geblickt - vor allem aber gefragt, was heute getan werden muss.
© dpa/Britta Pedersen

Was bewegt die re:publica?: Die erstaunliche Ernsthaftigkeit der Netzgemeinde

Juxveranstaltung? Von wegen. Auf der re:publica sammelt sich das Lager der Vernünftigen, Aufklärer und Menschenfreunde. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Sebastian Leber

Menschen, die viel Zeit im Internet verbringen, ziehen auch 2019 noch leicht Argwohn auf sich. Haben die denn kein richtiges Leben? Daddeln die bloß Computerspiele, streamen illegal Filme, vergeuden ihre Zeit in einer Blase aus Gleichgesinnten, mit Twitter und Katzenbildern, oder noch schlimmer: Sind das am Ende gar Hacker? Auf der Digitalkonferenz re:publica, zu der ab Montag in Berlin zigtausende Netzaffine zusammenkommen, wird sich ein ganz anderes Bild materialisieren. Da wird sichtbar, dass dieser heterogene Haufen aus Bloggern, Aktivisten, Unternehmern und Utopisten, der grob als „Netzgemeinde“ firmiert, sehr ernsthafte Anliegen verfolgt.

Es wird diskutiert, wie sich Fake News vor Wahlen entlarven lassen. Was gegen Shitstorms und Hetzkampagnen hilft. Wie Integration gelingt. Die Netzgemeinde hat sich in Zeiten der Angriffe von Anti-Demokraten und Populisten merklich politisiert. Hier sammelt sich das Lager derer, die im Zweifel immer für Vernunft und Aufklärung eintreten, für Wissenschaft, Presse- und Meinungsfreiheit.

Ein Dokument aus analogen Zeiten

Diese Übereinkunft ist parteiübergreifend, vereint Linke und Konservative und basiert auf der unbedingten Wertschätzung eines Dokuments, das 40 Jahre vor dem Internet erfunden wurde, als PDF-Datei lediglich 200 Kilobyte groß ist und in digitalen Kreisen lange weniger spannend gefunden wurde als etwa das Potenzial von Virtual Reality oder die nächste originelle Start-up-Idee – einfach weil es immer da war und ohnehin selbstverständlich schien: das Grundgesetz.

Noch vor ein paar Jahren war es eine abwegige Vorstellung, junge Menschen könnten öffentlich bekennen, wie cool sie die Verfassung der Bundesrepublik fänden. Man lobt ja auch nicht anlasslos seine eigenen Eltern, mögen sie noch so toll sein, schon gar nicht vor Freunden.

Der Sinneswandel ist Reaktion auf den andauernden Rechtsruck und die Ahnung, wie dessen Protagonisten die Gesellschaft zurichten würden, sobald sie es könnten. Sascha Lobo, Deutschlands Interneterklärer Nummer eins, hat dies auf einer vergangenen re:publica als „Verfassungspatriotismus“ skizziert.

Treffen der Grundgesetz-Fangirls und -boys

Die Bewegung, die hier herangewachsen ist, denkt proeuropäisch, säkular, humanistisch. Ihr Engagement ist auch eine Absage an Verschwörungstheorien, an Geschichtsrevisionisten, Klimawandelleugner und Impfgegner, an Globuli und sonstigen esoterischen Firlefanz. All dem ist man im Netz, genau wie der Hetze der Demokratiefeinde, noch unmittelbarer ausgesetzt als auf der Straße.

Es wird einem in die Timelines gespült, bildet sich in Kommentarspalten ab, wird von Algorithmen empfohlen. Dazu die Aufgeregtheit der Diskussionen, die jedes sachliche Ringen verhindert. Ein Twitter-Nutzer hat das Problem treffend benannt: „Ich habe noch nicht mal den Sachverhalt verstanden, und ihr seid schon wieder bei ,Natürlich darf geschossen werden‘.“

Als Einzelperson fällt es schwer, den destruktiven Kräften im Netz etwas entgegenzusetzen. Soll man sie also ignorieren, sich wegducken, zurückwüten, selbst verrohen? Am besten: in der Gemeinschaft nach Lösungen suchen. Genau das wollen viele Betroffene in den kommenden Tagen tun, zum Beispiel die ZDF-Journalistin Nicole Diekmann, die Anfang des Jahres fürchterliche Hasswellen ertragen musste, weil sie es gewagt hatte, ein selbstverständliches „Nazis raus“ zu twittern. Passender Titel ihrer Diskussionsrunde: „Aufräumen im Trollhaus“.

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