zum Hauptinhalt
Andrea Nahles (46) ist seit fast drei Jahren Ministerin für Arbeit und Soziales. Von 2009 bis 2013 war sie SPD-Generalsekretärin.
© dpa

Arbeitsministerin Andrea Nahles: "Die digitale Revolution kommt schneller, als vielen klar ist"

"Dürfen keine Zeit verplempern": Bundesministerin Andrea Nahles (SPD) spricht über neue Herausforderungen in der Arbeitswelt und ihr Rentenkonzept.

Frau Nahles, stehen die Errungenschaften der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie in Zeiten der Digitalisierung auf dem Spiel?

Nein. Aber wir brauchen einen neuen Kompromiss zwischen Sicherheit und Flexibilität. Die Arbeitgeber sind zunehmend dem globalen Wettbewerb ausgesetzt, Kundenerwartungen wandeln sich. Auf der anderen Seite haben auch Arbeitnehmer neue Wünsche: Sie wollen pünktlich zur Familie nach Hause und sich lieber abends nochmal zu Hause an den Schreibtisch setzen.

Ist der Umbruch vergleichbar mit der industriellen Revolution, droht den Arbeitnehmern neue Ausbeutung?

Wir haben in Deutschland eine besondere Verabredungskultur zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wir können die digitale Revolution mit Sozialer Marktwirtschaft und Sozialpartnerschaft besser bewältigen – auch als klare Alternative zu manch ausbeuterischen Geschäftsmodellen aus dem Silicon Valley. Klar ist aber auch: Die digitale Revolution kommt schneller als vielen klar ist. Wir dürfen keine Zeit verplempern.

Pessimistische Studien gehen davon aus, dass jeder Zweite Job seinen Job verliert, weil Roboter und Maschinen uns die Arbeit wegnehmen. Was wollen Sie tun?

Das sind übertriebene Horrorszenarien. Aber in Deutschland sind immerhin potenziell zwölf Prozent der Jobs von der Automatisierung betroffen. Das heißt nicht, dass all diese Arbeitsplätze wegfallen. Aber wer nicht bereit zur Weiterbildung ist, riskiert seinen Job. Besonders heftig ist das in der Logistik und im Handel zu spüren. Wenn in der Zukunft der Warenkorb nur noch durch eine Schranke geschoben werden muss, mit der die Einkäufe erfasst werden, müssen wir den Beschäftigten an der Kasse frühzeitig berufliche Alternativen bieten. Der Transformationsdruck ist groß. Betriebe müssen mehr tun, aber wir brauchen auch eine öffentliche Weiterbildungsoffensive.

Wie soll die aussehen?

Es gibt verschiedene Bausteine. Die Bundesagentur für Arbeit wird eine bundesweite Weiterbildungsberatung anbieten. Bisher haben wir das an fünf Standorten ausprobiert, jetzt soll das in jeder Arbeitsagentur aufgebaut werden. Arbeitnehmer werden dort unabhängig beraten und besser individuell unterstützt. Wir müssen vermeiden, dass wir in Zukunft Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit zugleich haben.

Was planen Sie noch?

Ich stelle mir ein Persönliches Erwerbstätigenkonto vor. Jeder Arbeitnehmer soll ein Guthaben erhalten, mit dem Zeit für Weiterbildung oder familienbedingte Auszeiten finanziert wird. Es geht dabei nicht um klassische betriebliche Weiterbildung, die Einweisung in eine neue Maschine bleibt Sache des Arbeitgebers. Wir wollen vorausschauende Weiterbildung finanzieren, in Fertigkeiten, die absehbar wichtig werden. Mit dem Guthaben sollen Arbeitnehmer zur Weiterbildung motiviert werden. Wer eine geringe Qualifikation hat, soll ein höheres Guthaben bekommen als ein Akademiker.

Moderne Kommunikationsmittel ermöglichen, dass Arbeitnehmer rund um die Uhr für ihre Arbeitgeber erreichbar sind. Müssen sie auch dauernd verfügbar sein?

Nein. Aber wir müssen neuen Spielraum zwischen Flexibilität und Sicherheit ermöglichen. Ein Beispiel: Ich möchte, dass Arbeitnehmer stärker selbst bestimmen können, wann sie arbeiten. Diese Woche werde ich einen Gesetzentwurf ans Kanzleramt schicken, der ein Erörterungsrecht über die Lage der Arbeitszeiten beinhaltet. Ein Arbeitnehmer soll mit seinem Arbeitgeber darüber verhandeln können, morgens eine halbe Stunde später zu kommen, um das Kind ohne Hetze in die Kita zu bringen. Der Arbeitgeber soll das nur ablehnen können, wenn er gut begründet, warum die betrieblichen Abläufe das nicht erlauben. Für mich ist das ein Beitrag, um Arbeitnehmern Stress zu nehmen, der zwischen Familien- und Arbeitszeit entsteht.

Sie denken aber auf der anderen Seite auch über eine Lockerung des Arbeitszeitgesetzes und des Arbeitsschutzes nach…

Wir wollen Experimentierräume, für zwei Jahre, wissenschaftlich begleitet, auf der Basis eines Tarifvertrags. Unter diesen Bedingungen sollen Arbeitgeber und Gewerkschaften zum Beispiel verabreden können, bei der Arbeitszeit über die gesetzlichen Regeln hinauszugehen. Mir geht es nicht darum, den 8-Stunden-Tag abzuschaffen. Aber ich möchte mehr Bewegung reinbringen.

Die sozialen Sicherungssysteme, die aus Bismarcks Zeiten stammen, passen nicht mehr richtig in die Arbeitswelt von morgen. Wie wollen Sie dafür sorgen, dass auch Clickworker und andere Selbstständige fürs Alter abgesichert sind?

Im Moment gibt es drei Millionen Selbstständige, die keine Alterssicherung haben. Wir brauchen eine Pflichtversicherung in der gesetzlichen Rente. Leider sind CDU und CSU dagegen.

Sie haben mit der Union auch keine Einigung über das langfristige Rentenniveau erzielt. Empfinden Sie es als Scheitern, dass die Koalition keine große Rentenreform mehr hinbekommen hat?

Wir haben eine große Chance verpasst. Ich hatte gehofft, dass wir uns wenigstens darauf verständigen können, bis 2030 ein Rentenniveau von mindestens 46 Prozent zu sichern. Das hätte den Menschen wieder mehr Vertrauen ins Rentensystem gegeben. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist heute viel besser, als man Anfang 2000 gedacht hat. Das würde uns erlauben, die Rentenniveauabsenkungen dieser Jahre teilweise rückgängig zu machen.

Aber reicht es denn nicht aus, das heutige Rentenniveau in Deutschland langfristig bei den 43 Prozent zu stabilisieren, die schon jetzt als unterste Haltelinie im Gesetz stehen?

Als die Absenkung des Rentenniveaus beschlossen wurde, ging man davon aus, dass alle auch privat vorsorgen werden. Das ist nicht der Fall. Wir müssen deshalb die gesetzliche Rente als zentrale Säule der Altersversorgung stabilisieren. Dazu gehört eine Anhebung der Haltelinie beim Rentenniveau. Die Leute haben anständige und verlässliche Renten verdient. Natürlich ist das eine Kraftanstrengung, das kostet mehr an Steuern und Beiträgen. Aber wenn die Leute am Ende mehr herausbekommen, sind sie dazu auch bereit.

Schon jetzt zahlt der Staat 86 Milliarden Euro an die Rentenkassen. Ist da wirklich noch Luft nach oben?

Ab dem Jahr 2025 gehen die geburtenstarken Babyboomer in die Rente. Der Steuerzuschuss wird auf jeden Fall steigen müssen. Meiner Meinung nach gibt es keine andere Lösung.

Wie sieht es mit längerem Arbeiten aus?

Von einer pauschalen Anhebung der Altersgrenze halte ich nichts. Das bringt finanziell kaum etwas, vielleicht gerade mal 0,6 Beitragspunkte. Wir müssen erst einmal die Anhebung der Altersgrenze auf 67 schaffen, die dauert bis 2029.

Die Koalition hat sich auf eine Angleichung der Ost-West-Renten verständigt. Doch danach gab es Verwirrung über die Finanzierung. Soll das nun aus Beitragsgeldern bezahlt werden oder aus Steuern?

Ich habe mit Finanzminister Schäuble dazu telefoniert, wir treffen uns zeitnah dazu und dann kriegen wir die Kuh vom Eis. Eine Lösung ohne Steuermittel ist für mich nicht denkbar.

Zur Startseite