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Hollande und Merkel wiederholen vor der Kathedrale von Reims einen historischen Akt.
© dpa

50 Jahre Versöhnung: Die deutsch-französische Freundschaft feiert goldene Hochzeit

Vor 50 trafen sich Adenauer und de Gaulle in Reims um für Versöhnung einzutreten. In der Krise von Europa, reisen Angela Merkel und François Hollande an denselben Ort. Eine wichtige Geste, gerade jetzt.

Es gibt Vergleiche, die sind so platt wie eine unverpackte DVD. Etwa der, dass ein Wolkenbruch über der Innenstadt von Reims am Morgen einer ganz wichtigen deutsch-französischen Gedenkveranstaltung das derzeitige Verhältnis der Spitzenpolitiker beider Länder ganz gut trifft. Aber wer sich auf diese Ebene begibt, muss dann eben auch ertragen, dass just in dem Moment, in dem die Bundeskanzlerin vor der Kathedrale von Reims eintrifft und auf den französischen Präsidenten zugeht, der Himmel aufreißt und eine grelle Julisonne das Geschehen überstrahlt. Dem Regisseur, der diese Szenerie erdächte, würde man das Drehbuch um die Ohren schlagen.

Aber das Leben schreibt nun einmal die besten Geschichten, und die hier ist wahr und sie spielt am 8. Juli 2012 auf dem Vorplatz der Kathedrale von Reims, wo sich schon einmal ein deutscher und ein französischer Regierungschef trafen. Es ist eigentlich eine ziemlich unsinnige Geschichte. Denn: Kann man eine weit zurückliegende Premiere wiederholen, zurückholen im Wortsinne, noch einmal wieder aufleben lassen, nachspielen, so, als seien zwischen dem ersten Mal und dem Versuch, den Zauber des Anfangs zu beschwören, nicht, sagen wir es genau, 50 Jahre vergangen?

Es gibt alte Paare, die sich zur Goldenen Hochzeit das Ja-Wort noch einmal geben. Aber das liegt im Privaten, ist rührselig, verklärt, weil die meisten Narben eben doch nicht mehr schmerzen und in der Bilanz, nach einem halben Jahrhundert des Auf und Ab, des Wechsels der Krisen und Feste, beide sich dann doch eingestehen: Es war richtig, dass wir zusammengeblieben sind.

Aber Politik ist anders. Hier sind 50 Jahre auch viel und sind doch nichts, weil 50 Jahre im Mit- oder Gegen- oder Nebeneinander von Nationen über Krieg und Frieden entscheiden. Da wurden Fundamente für Generationen gelegt oder Mauern eingerissen, Häuser gemeinsam oder Gräber auf jeder Seite für sich gebaut. Reims am 8. Juli 1962, das war die wohl großartigste Inszenierung des Neubeginns im Verhältnis zweier Nationen, die es jemals gegeben hat. Charles de Gaulle, neben Konrad Adenauer der Hauptdarsteller, führte auch Regie. Er war es, der den Spielort aussuchte, und er wagte es vor einem Publikum, dessen Reaktionen er sich nicht sicher sein konnte.

Im Ersten Weltkrieg hatten deutsche Kanonen gleich zu Beginn, 1914, und später noch einmal, beim Rückzug, die Kathedrale in Flammen gesetzt. Die Kathedrale von Reims. 816 war hier der erste französische König gekrönt worden. 32 weitere beugten hier ihr Haupt zur Entgegennahme der Herrscherinsignien. Hier ließ Jeanne d’Arc, die französische Nationalheldin, Karl VII krönen. In der Kathedrale von Reims schlägt das Herz Frankreichs.

Und in dieser Kathedrale gingen dann am Vormittag des 8. Juli 1962 zwei alte Männer auf den wartenden Erzbischof zu und der Jüngere der beiden, der 72-jährige Charles de Gaulle, sagte: „Euer Exzellenz, der Kanzler und ich besuchen Ihre Kathedrale, um die Versöhnung von Deutschland und Frankreich zu besiegeln“. Dieser Satz im französischen Originalwortlaut steht auch auf einer bronzenen Gedenkplatte, die vor dem Haupteingang der Kathedrale in den Boden eingelassen ist. Nun wird eine zweite Platte hinzukommen. Die, die an die Begegnung Merkels und Hollandes am 8. Juli 2012 erinnert.

Sehen Sie im Video, wie der Festakt begangen wurde:

Die Bilder des 86-jährigen Konrad Adenauer an der Seite de Gaulles gingen damals um die Welt. Hier der ehemalige General, der ab Juni 1940 von England aus den Widerstand gegen die deutsche Besetzung Frankreichs organisiert hatte und ihm ein politisches Gesicht gab. Dort der erste Kanzler des demokratischen Nachkriegsdeutschland. Ihr Auftritt gehört zur Ikonografie der europäischen Nachkriegsgeschichte.

In Reims hatte Deutschland am 7. Mai 1945 kapituliert. Östlich von Reims liegen die Schlachtfelder und Schützengräben des Ersten Weltkrieges, liegt Verdun, ein Name, der seit damals zum Synonym für den Wahnsinn des europäischen Krieges geworden ist. Der Sonntag von Reims war der wahrhaft krönende Abschluss einer einwöchigen Reise des deutschen Bundeskanzlers quer durch Frankreich, die ihn zuvor nach Paris, Bordeaux und Rouen geführt hatte.

Von der Kathedrale von Reims zieht sich eine gerade Linie zum Elysée-Vertrag, der am 22. Januar 1963 unterzeichnet wurde und fortan das völkerrechtliche Fundament bildet, der Versöhnung zwischen zwei einst verfeindeten Völkern. Dass Adenauer von den Nazis zweimal interniert worden war, dass er am Ende nur durch glückliche Fügung der Hinrichtung entging, machte ihn auch für jene Franzosen glaubhaft, die anderthalb Jahrzehnte nach Kriegsende die Zeit eigentlich noch nicht für reif hielten, den Deutschen die Hand zu reichen.

Zwischen 1958 und 1963, dem Jahr des Endes seiner Kanzlerschaft, haben sich Adenauer und de Gaulle fünfzehn Mal getroffen, über hundert Stunden miteinander geredet und sich 40 Briefe geschrieben. Das deutsch-französische Jugendwerk, die vielen hundert Städtefreundschaften, die Jumelages, die damals noch unvorstellbare gemeinsame deutsch-französische Brigade, alles das nahm am 8. Juli 1962 den Anfang.

Und darauf wollten Angela Merkel und François Hollande aufbauen, als sie sich, wieder an einem Sonntag und an selber Stelle trafen? Diese beiden, im Abstand von nur einem Monat 1954 geboren, Kinder einer anderen Zeit, und doch in der Tradition dieser großen alten Männer?

Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert sind Frankreich und Deutschland nicht mehr das gemeinsame Antriebsaggregat eines vereinten Europa, sondern Gegenspieler auf dem Feld der Diplomatie, getrieben von handfesten Interessengegensätzen. Kann man da eine Einigkeit zelebrieren, die nicht da ist, ein Stück wieder aufführen in den Kulissen von 1962 mit den Menschen des Jahres 2012?

Ist das nun alles für die Jahrbücher der Diplomaten geschehen?

Historischer Akt der Versöhnung. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in der Kathedrale von Reims am 8. Juli 1962.
Historischer Akt der Versöhnung. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in der Kathedrale von Reims am 8. Juli 1962.
© AFP

Wer das Thema nur vom augenblicklichen Konflikt her betrachtet, schaut aus der falschen Perspektive. Das Datum war schon fixiert worden, als noch keiner wusste, wer der nächste französische Präsident, was seine Agenda sein würde. Und so verschieden die Ansichten über die Bewältigung der europäischen Krise auch zwischen Merkel und Hollande sein mögen, beide sind viel zu weitsichtig, sich die Gelegenheit für eine große Geste entgehen zu lassen. Die Franzosen sind groß im Arrangieren solcher Ereignisse. Sie lieben das militärische Zeremoniell. Und so lassen sich einige tausend Zuschauer nicht vom Dauerregen und auch nicht vom Wind, der durch die Akazien faucht, vertreiben. Die Präsidentengarde in ihren prächtigen Uniformen hat vor dem Hauptportal Aufstellung genommen, die deutsch-französische Brigade ist angetreten, alles sehr zackig, eine Form militärischer Präsenz, in der die französische Armee entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil schon immer sehr gut war. François Hollande ist vor der Kanzlerin da und lässt sich von seinen Landsleuten feiern, bis Angela Merkel eintrifft.

Im schwarzen Hosenanzug, mit einer lachsfarbenen Bluse und die Frisur gegen jeden Sturm gewappnet, steigt sie aus dem Wagen, lächelt Hollande an, wirkt ganz ungezwungen, als sie, mit großem Beifall begrüßt, bis zur Ehrenkompanie geht und beide die Nationalhymnen anhören. Darüber eben diese Sonne, mit der niemand gerechnet hat.

In der Kathedrale, in die sie Erzbischof Thierry Jordan geleitet hatte, sitzen sie an der gleichen Stelle wie 50 Jahre zuvor de Gaulle und Adenauer. Auch der Gobelinteppich, auf dem die Stühle für beide stehen, ist der von einst. Anders als damals gibt es keinen Gottesdienst, die Zeit des katholisch geprägten Europa ist lange vorbei, die Zeit, die neben de Gaulle und Adenauer ja auch einen Robert Schuman und einen Alcide de Gasperi hervorgebracht hatte. Der Erzbischof versteht in seiner auf Deutsch und Französisch vorgetragenen kurzen Reflektion aber sehr einfühlsam, die Brücke über die Zeiten zu spannen. Den Schlusssatz der Johannespassion würde man nun hören, sagt der Erzbischof, weil in dieser Musik alles friedlich sei im Warten auf die Auferstehung des Lebens, und irgendwie hört man daraus auch die Sehnsucht heraus, die beiden Politiker würden es sich ganz besonders zu Herzen nehmen.

Die Kanzlerin, Tochter eines evangelischen Pfarrers, scheint bewegt von der Musik dieser protestantischsten der großen deutschen Komponisten. Und die Konzentration fällt auch nicht ab, als sie sich mit François Hollande die Glasfenster Chagalls und die neu hinzugekommenen des deutschen Künstlers Wolfgang Knoebel zeigen lässt.

Mit kurzen Ansprachen beider Politiker vor der Kathedrale geht dieser offizielle Erinnerungsteil zu Ende. Dass dies ein historischer Moment ist, war allen bewusst, und Angela Merkel und François Hollande gehen beide noch einmal auf die dunklen Seiten der deutsch-französischen Geschichte ein, die, so Hollande, in den Erinnerungen beider Völker tiefe Spuren hinterlassen habe. Aber er fügt dann auch hinzu: „Man darf die deutsch-französische Geschichte nicht auf die 75 kriegerischen Jahre reduzieren.“ De Gaulle habe seinerzeit zu Adenauer gesagt: „Wir schlagen heute keine neue Seite auf, wir öffnen eine neue Tür“, um fortzufahren: „Lassen Sie uns, Frau Bundeskanzlerin, wieder eine neue Tür öffnen. Unsere Generation kennt keinen Krieg, sie kennt nur Frieden und Demokratie. Unsere Länder sind die Gründer dieses Europa.“ Und er endet, fast pathetisch, mit dem Ausruf: „Nichts darf die deutsch-französische Verbindung gefährden.“

Das ist gezielt auf die Berichte über die jüngsten Kontroversen beim Brüsseler Gipfel gemünzt. Aus Hollandes Perspektive, der Merkel mit seinem Wachstumspakt bedrängt, war Brüssel ein einvernehmliches Ereignis. Und die stille Vereinbarung über den künftigen Vorsitzenden der Euro-Gruppe ist ja auch ganz in diesem Sinne – Jean-Claude Juncker macht noch zwei Jahre weiter, dann folgt ihm, ebenfalls für zwei Jahre, Wolfgang Schäuble.

Angela Merkel nimmt den Ton auf, ist erkennbar berührt, angerührt, erinnert ihre französischen Zuhörer daran, dass sie selber, als Ostdeutsche, bis 1989 das Zusammenwachsen West-Europas nur als Zaungast habe verfolgen können und nun umso glücklicher sei, mitgestaltend an der Zukunft Europas zu arbeiten.

Ist das nun alles für die Jahrbücher der Diplomaten geschehen, ist es Zeremoniell ohne Belang für den Fortgang der alltäglichen Politik, hohle Geste?

1962 fürchteten viele Franzosen, dass die Zeit noch nicht reif sei für die Versöhnung mit den Deutschen. Heute wissen wir, dass es ein mutiger Schritt im richtigen Moment war. Und 50 Jahre Freiheit sind der schönste Beleg für die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Was der Sonntag in Reims auch zeigte: Man darf Premieren 50 Jahre danach noch einmal, mit neuen Darstellern, wiederholen, wenn das Stück seine Aktualität über eine so lange Zeit nicht verloren hat. Dann muss man es sogar tun.

Gerd Appenzeller

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