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Russische Mediziner betreten die rote Zone zur Behandlung von Covid-19-Patienten in einem Moskauer Krankenhaus.
© AFP/Yuri KADOBNOV

War das alles wirklich nötig?: Die Corona-Maßnahmen im Check

Verdopplung oder R-Wert? Maske tragen oder doch nicht? Wer kann das alles verstehen? Fünf Punkte, die in der Corona-Debatte erklärungsbedürftig sind.

Unklar ist nicht nur, in welchem Ausmaß das Coronavirus Gesundheitsschäden verursacht. Auch das Handeln der Politik und die Empfehlungen der Experten in der Coronakrise lassen sich oft nur schwer nachvollziehen. Ein Überblick.

Welche Strategie verfolgt Angela Merkel und wie haben sich ihre Parameter in der Krise verändert?

Als Angela Merkel sich zum ersten Mal umfassend zur Coronakrise äußerte, gab sie für die Regierung eine Leitlinie aus: „Die Maßstäbe für unser Handeln, unser politisches Handeln ergeben sich aus dem, was uns Wissenschaftler und Experten sagen.“ Ihr nächster Halbsatz in der Pressekonferenz wird seltener zitiert: „... auch wenn sich die Ratschläge verändern.“ Er sollte sich als ausgesprochen ahnungsvoll erweisen.

Denn auch in der Finanzkrise 2008 oder der Euro-Krise war die Politik auf Experten angewiesen, die Lösungsvorschläge aufzeigten. Doch in den Finanzfragen blieben die Ratschläge und ihre mutmaßlichen Nebenwirkungen überschaubar.

Das unbekannte Virus dagegen hält im Wochentakt Überraschungen und Neuigkeiten selbst für Viro- und Epidemiologen bereit. Das verlangt der chronisch wissbegierigen Kanzlerin ständiges Nachlernen ab. Am kleinen Beispiel, dass man Masken mit Metalleinlage besser nicht in der Mikrowelle sterilisiert. Im größeren Rahmen, dass in der ersten Pandemiephase die Verdopplungszeit der Infektionen ein brauchbarer Maßstab für den Erfolg von Eindämm-Maßnahmen war, jetzt aber die Reproduktionszahl das Geschehen genauer beschreibt.

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Der für viele verwirrende Wechsel der Maßzahlen und Ratschläge zeigt das grundsätzliche Dilemma der Corona-Krisenkommunikation: Die Zusammenhänge sind zu kompliziert und das Wissen selbst der Spezialisten etwa über Ansteckungswege noch viel zu gering, um Zielmarken, Zeitpläne oder auf Tag und Branche genaue Lockerungspläne zu entwerfen. Solche Pläne sind aber viele von der Politik gewohnt. Klare Ansage: „Arbeitslosigkeit in drei Jahren halbieren!“

Das Virus als Naturereignis entzieht sich solcher – oft ja auch nur vorgetäuschter – Planbarkeit. Kein Experte weiß, wie sich die neuen Lockerungen auswirken. Man kann es nur probieren und nach zwei, drei Wochen bilanzieren. Geht es schief, heißt es: im Zweifel einen Schritt zurück. Merkel weiß, dass der Lockdown eine Katastrophe verhindert, aber nicht das Virus besiegt hat. Daher plädiert sie für kleine Schritte. Die Zahlen umschreiben dabei nur den Grad der Bedrohung.

Der R-Wert zur Verbreitung des Virus lag bereits vor dem Lockdown unter 1 – waren die Maßnahmen unnötig?

Derzeit fühlt sich jeder, der mit Zahlen umgehen zu können meint, zum Epidemiologen oder Virologen berufen. So etwa der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg von der Universität Hannover. Er behauptet in einem viel geklickten Youtube-Video, der Lockdown des Geschäftslebens in Deutschland sei unnötig gewesen, weil der Gradmesser für die Virusverbreitung, die Reproduktionszahl R, nach einer Grafik des Robert-Koch-Instituts schon vor Einführung dieser Maßnahmen auf etwa 1 gesunken sei. Der Lockdown habe „nichts gebracht“, weil der Wert seitdem in etwa bei 1 gelegen habe.

Homburg liegt falsch. Ohne den Kontext, was der R-Wert, Infektionszahlen und ihr Zustandekommen bedeuten – wofür man nun mal epidemiologisches und virologischen Wissen braucht –, lässt sich die Grafik (siehe oben) nicht verstehen.

Der R-Wert des heutigen Tages etwa – 0,9 – kommt zustande durch ein Verfahren namens Nowcasting: Auf Basis der aktuellen Meldezahlen über Infizierte wird der Diagnose- und Meldeverzug eingerechnet und damit eine Prognose erstellt, wie viele Menschen bereits erkrankt sind, obwohl sie erst innerhalb der nächsten Tage und Wochen getestet, diagnostiziert und gemeldet werden. „Es ist also eine Echtzeitprognose“, eine Modellierung, sagte eine RKI-Sprecherin dem Tagesspiegel. Auf Basis dieses Nowcastings wird dann die Reproduktionszahl geschätzt.

Zuverlässig könne man R nur im Nachhinein bestimmen. Es gebe einen Verzug von zehn bis elf Tagen. „Dass R bereits am 22. März auf etwa 1 gesunken ist, wusste das RKI halbwegs zuverlässig frühestens Anfang April“, sagte die Sprecherin. Sobald diese dann nicht mehr prognostischen, sondern gesicherten Zahlen vorlagen, veröffentlichte das RKI sie in Form einer Grafik im „Epidemiologischen Bulletin“.

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Der Vorwurf Homburgs aber, der Lockdown sei gemessen an diesen R-Zahlen also gar nicht mehr nötig gewesen, ist nicht haltbar. Denn zum einen hat es bereits vor Beschluss der Kontaktverbote am 9. März die Absage von Großveranstaltungen gegeben und ab 16. März wurden die Schulen und Kitas geschlossen. Und auch schon lange vor dem eigentlichen Lockdown gab es wichtige Verhaltensänderungen in der Bevölkerung – viele arbeiteten schon im Homeoffice, mieden Restaurants, Cafés und größere Veranstaltungen. Das zeigen auch Bewegungsstudien.

Grafik: Effektive Reproduktionszahl R - Wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt
Reproduktionszahl R: Wie viele Menschen ein Infizierter durchschnittlich ansteckt
© Tagesspiegel/Rita Böttcher

All das habe dazu geführt, dass man Hot Spots stilllegte, also Orte und Situationen, wo besonders viel Virus-Übertragungen stattfinden. „Das hat sich in der R-Zahl schnell widergespiegelt“, sagte die RKI-Sprecherin. „Und nur weil R mal unter 1 rutscht, heißt das nicht, dass sie dort stabil bleibt.“ Die Kontaktverbote ab 23. März hätten dazu geführt, dass R so niedrig bleibt. Außerdem lag die Zahl der Neuerkrankungen damals noch um die 4000 bis 5000, was selbst bei einer geringeren Reproduktionszahl zu hoch sei, bei der nur ein Mensch einen weiteren ansteckt. Das Gesundheitssystem würde dann immer noch überbelastet. „Man kann diese beiden Werte, R und die Neuerkrankungszahl, nie entkoppelt voneinander betrachten“, sagte die RKI-Sprecherin.

Die Kontaktbeschränkungen waren nötig, um den Erfolg der Schul- und Kitaschließungen und der Versammlungsverbote zu verstetigen. Außerdem wird der R-Wert über Deutschland gemittelt, das heißt, in einzelnen Regionen kann er durchaus bei 1,3 liegen. Und dass man in Deutschland die Pandemie wesentlich besser kontrollieren könnte, wenn R nicht in der Nähe von 1, sondern unter 0,3 läge, das dürfte jetzt jedem klar sein – mit Ausnahme von selbst ernannten Hobby-Epidemiologen, versteht sich.

Wie gefährlich ist das Virus für Herz, Nieren und Gefäße?

Immer mehr Hinweise sammeln Ärzte und Forscher weltweit, dass es sich bei der Covid-19-Krankheit um alles andere als eine „milde“ Erkrankung der Atemwege handelt. Das Virus befällt nicht allein die Lungenzellen, in die es über das ACE-2-Eiweiß in der Zellmembran gelangt. Dieses Enzym befindet sich auch auf vielen anderen Zellen im Körper, etwa auf der Innenseite der Blutgefäße, auf Herzmuskelzellen, der Niere und im Darm.

Und wenn das Virus erst einmal im Blutkreislauf Fuß fasst, dann scheint es auch auf all diese Organe schädlichen Einfluss zu nehmen. Denn wenn es die Blutgefäßzellen befällt, dann löst es einerseits eine starke Entzündungsreaktion aus, andererseits wird aber auch die Blutgerinnung angekurbelt und das Risiko für Thrombosen erhöht.

So zeigen sich etwa durch Computertomographien, dass bei vielen schwer erkrankten Patienten Blutgefäße in der Lunge verstopfen und zu Lungenembolien führen, so dass die Patienten zusätzlich zur Atemnot durch die virus-befallenen Zellen auch noch ganze Lungenbereiche verlieren.

„In bis zu 20 Prozent der Fälle wird die Krankheit durch thromboembolische Komplikationen verschlimmert“, schätzt Karl Stangl, Kardiologe und Angiologe der Charité. Damit bestätigt er den Verdacht eines Schweizer Arztes, der einen Großteil der Todesfälle von Covid-19-Patienten auf Lungenembolien zurückführt. Denn selbst wenn sie selbst nicht zum Tod führen, belasten solche Thrombosen das Herz enorm, da es mehr pumpen muss, um den Verlust von Lungengewebe und damit Sauerstoffaufnahme auszugleichen.

Zudem ist ACE-2 ein Enzym, das den Blutdruck reguliert, was durch den Virusbefall wohl ebenfalls behindert wird. Doch damit nicht genug. Das Virus scheint auch die Herzmuskelzellen selbst zu schwächen. Wie auch Nierenzellen, die ohnehin sensibel auf all die überzähligen, durch die Entzündung im Blut schwimmenden Gerinnungs- und Entzündungsmoleküle reagieren, so dass bei vielen Covid-19-Patienten auch Dialysen nötig sind. Dass die Viren auch noch Nervenzellen angreifen, wie der Verlust des Riech- und Geschmackssinns bei Infizierten zeigt, scheint da vergleichsweise erträglich. Doch was der Befall des Denk- und all der anderen Organe für Langzeitfolgen hat, weiß bislang noch niemand.

Warum galten Masken so lange als unnütz und werden jetzt überall Pflicht?

Als letztes Bundesland führte auch Bremen Mittwoch eine Maskenpflicht für den öffentlichen Nahverkehr und in Geschäften ein. Dabei galten Masken noch vor einigen Wochen nicht nur als sinnlos, sondern sogar als potenzielle Gefahr: Masken schützen nicht vor einer Infektion, die Träger könnten außerdem versucht sein, wichtige Hygiene- und Abstandregeln nicht mehr einzuhalten. Sitzt die Maske schlecht, fasse man sich mehr ins Gesicht, wird sie nicht gereinigt, ist sie ein potenzieller Infektionsherd.

Anfang April kam dann die Kehrtwende im öffentlichen Diskurs: Das Robert Koch-Institut änderte seine Empfehlung, dass nur Menschen mit Atemwegserkrankungen Masken tragen sollen und rät nun auch der allgemeinen Bevölkerung zum Tragen einer Mund-Nase-Bedeckung. Am 6.April führte Jena als erste deutsche Stadt eine Maskenpflicht ein.

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Alle Gegenargumente sind noch immer gültig: Einfache Mund-Nase-Bedeckungen schützen die Träger nicht oder nur in sehr geringem Maße vor einer Corona-Infektion. Feine Tröpfchen können noch immer eingeatmet werden.

Was sie jedoch leisten, ist Fremdschutz. Größere Tröpfchen, die beim Husten, Niesen oder Sprechen ausgestoßen werden, bleiben hängen. Die Ansteckungsgefahr für Menschen im Umfeld des Maskenträgers ist daher deutlich niedriger. Warum also die lange Skepsis gegenüber einer Maskenpflicht? Die erklärt sich vor allem mit dem Mangel an medizinischer Ausrüstung.

Der Charité-Virologe Christian Drosten erläuterte den Fremdschutz am 17. März. Er sagte aber auch: „Es darf keine Marktkonkurrenz geben.“ Professionelle Atemschutzmasken, aber auch einfache OP-Masken, würden in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen dringend gebraucht. Auch jetzt besteht das Dilemma, dass Bürger verpflichtet sind, Masken zu tragen, die es nicht gibt. Inzwischen haben aber viele begonnen, selbst Masken zu nähen und zu verkaufen. Auch Schals oder Buffs werden als Mund-Nase-Bedeckungen erlaubt. Die Hoffnung der Politik scheint jetzt darin zu liegen, dass das ausreicht, um Privatmenschen vom Kauf medizinischer Schutzmasken abzuhalten.

Können wir viele Tote bei der nächsten Grippewelle noch verantworten?

Für Alena Buyx, Professorin an der Technischen Universität München und Mitglied des Deutschen Ethikrats, sei der Vergleich zwischen Influenza und Covid-19 eine „krumme Analogie“. Denn bei den Grippeviren, die Jahr für Jahr für neue Erkrankungswellen sorgen, seien die Risiken bekannt und abschätzbar. Zudem gebe es Impfstoffe, um sich zu schützen. „Die Menschen nehmen die Risiken einer Influenza-Infektion also bewusst in Kauf“, sagte Buyx. Bei Sars-CoV-2 sei das ganz anders.

Mit Blick auf die Spezifika des neuen Erregers, die Risikoverteilung und die zu erwartenden Belastungen des Gesundheitssystems sei eine Strategie des Laufenlassens unverantwortlich. Je länger die aktuelle Pandemie aber andauere, desto stärker seien Folgelasten sozialer und ökonomischer Art zu berücksichtigen. „Wir sind da in einem ethischen Konflikt“, sagt Buyx. Sie ist der Auffassung, dass die grundsätzliche Akzeptanz der Grippe-Toten etwas darüber aussagt, wie wir Todesfälle im Gesundheitswesen insgesamt akzeptieren: „Wir sollten diesbezüglich nicht in einen einseitigen Covid-19-Exzeptionalismus verfallen.“

Im Influenza-Bericht des RKI heißt es, dass in der zurückliegenden, Grippe-Saison rund 4,5 Millionen Menschen wegen Influenza zum Arzt gingen. Die eigentliche Grippewelle habe elf Wochen angehalten, von Anfang Januar bis Mitte März. Bis vor Ostern wurden an das RKI 434 Todesfälle mit Influenzavirusinfektion übermittelt.

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