Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof: „Die Bürger kämpfen nicht mehr für einfache Steuern“
Einst war er ein Held der CDU, Gerhard Schröder nannte ihn „Professor aus Heidelberg“. Im Interview sagt Paul Kirchhof, wie er heute Steuerpolitik machen würde.
Wir haben seit Jahren eine gute Wirtschaftsentwicklung mit dem Ergebnis, dass die Steuereinnahmen gut laufen. Das wäre doch eigentlich die beste Zeit für eine Steuerreform. Warum traut sich die Politik da nicht heran, warum beschließt man keine Entlastungen?
Das hat mehrere Gründe. Der wesentliche ist wohl, dass wir uns daran gewöhnt haben, nicht mehr um gute Steuergesetze zu kämpfen. Jeder versucht, sich durch Steuergestaltung den jeweils eigenen Vorteil zu sichern. Der Bürger versteht das Steuerrecht nicht mehr. Es ist nicht mehr planbar. Der Bürger resigniert vor dem Gesetz. Wenn er im Einkommensteuergesetz nach dem Steuertarif sucht, bietet ihm das Gesetz mathematische Formeln statt einfacher Erklärungen.
Wie könnten die aussehen?
Der Gesetzgeber könnte dem Steuerzahler, so wie in meinem vor einigen Jahren vorgestellten Modell, ganz einfach erklären, dass etwa die ersten zehntausend Euro Einkommen steuerfrei sind, die nächsten zehntausend mit 15 Cent je Euro belastet werden, die darauffolgenden zehntausend dann mit 20 Cent und das weitere Einkommen mit 25 Cent. Das kann in einfacher deutscher Sprache geregelt werden. Doch dem Gesetzgeber ist an dieser Verständlichkeit nicht gelegen. Und die Bürger kämpfen nicht für die Vereinfachung, sondern sind häufig nur daran interessiert, individuelle Privilegien zu nutzen und Gestaltungsmöglichkeiten zu finden. Das gleiche Ziel verfolgen die Berater, die mit Steuergestaltung ihr Geld verdienen, und die Verbände, die für ihre Mitglieder spezielle Vorteile im Steuerrecht durchsetzen möchten.
Und mit Zugeständnissen wie dem Baukindergeld werden auch Entlastungen gruppenspezifisch zugeteilt…
Dessen Empfänger glauben, sie seien mit diesem Kindergeld gut bedient. Ohne dieses Zugeständnis würden sie das Steuerrecht kritischer bewerten und vielleicht auf Reformen drängen. So aber halten sie still. Tatsächlich nimmt die mittlerweile recht hohe Grunderwerbsteuer von bis zu 6,5 Prozent in einigen Bundesländern ihnen mehr weg, als sie beim Baukindergeld bekommen.
Was wäre aus Ihrer Sicht die dringlichste Reform im Steuerwesen?
Ich würde zunächst bei der Einkommensteuer ansetzen und diese deutlich vereinfachen. Wer in seinem Beruf, ob Unternehmer, Freiberufler oder Arbeitnehmer, Einnahmen erzielt hat, darf von diesen die Erwerbsausgaben abziehen, also Betriebsausgaben oder Werbungskosten. Er darf sein Existenzminimum und das seiner Familie abziehen, auch seine gemeinnützigen Spenden. Daraus bilden wir die Summe, wenden den Steuersatz darauf an und haben so die Steuerschuld errechnet. Das ist ein verständliches und einsichtiges Besteuerungsprinzip, das allerdings wegen der vielen Ausnahmen, Privilegien und Lenkungsmaßnahmen aus dem Blick geraten ist. Doch der Bürger könnte dieses Gesetz verstehen. Und der Finanzbeamte könnte, anders als heute, die Steuerschuld erklären.
Ihrem Einfach-Modell bei der Einkommensteuer wird vorgeworfen, es begünstige die Gutverdiener.
Das war und ist Propaganda. In dem kurzen Wahlkampf 2005 hatte ich meist nur ein kleines Mikrofon, sprich ein kleines Publikum, Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte Zugang zu den großen Mikrofonen. Damit hatte ich nicht die Chance, allgemein gehört zu werden. Das waren herbe, aber lehrreiche Wochen. Auch bei meinen Mitstreitern fehlte es an Unterstützung. Ich habe es damals versäumt, ihnen unser Modell zu erklären und sie dafür zu begeistern.
Ein anderes, über die Jahre immer konfuser gewordenes Thema ist die Umsatz- oder Mehrwertsteuer, mal sieben, mal 19 Prozent.
Früher war die Umsatzsteuer eine ganz einfache Steuer. Jetzt haben wir viele Ausnahmevorschriften und drei Steuersätze: null, sieben und 19 Prozent. Wenn wir über einen Markt gehen, kommen Sie aus dem Staunen nichtmehr heraus. Schnittblumen werden anders besteuert als Naturblumen, Hundefutter anders als Babynahrung, Hörbücher anders als E-Books. Wenn Sie mich nun fragen, wie sich diese Unterschiede erklären, müsste ich die Aussage verweigern. Es gibt keine sachlichen Gründe.
Warum wäre eine Reform so wichtig?
Die Umsatzsteuer ist in besonderer Weise sozialpolitisch zu rechtfertigen, weil dort der Millionär und der Bettler das gleiche zahlen. Wer ein Hemd kauft, zahlt 19 Prozent Umsatzsteuer. Die Einkommensteuer bemessen wir nach den persönlichen Lebens- und Einkommensverhältnissen. Die Umsatzsteuer ist für alle gleich. Allerdings haben wir für den Finanzmarkt eine Gerechtigkeitslücke. Dort gibt es keine Umsatzsteuer. Wenn wir Geld haben, das wir anlegen und sparen können, fällt bei den Finanzumsätzen keine Umsatzsteuer an, während jeder für den existentiellen Bedarf – Brot, Butter, Getränke und Kleidung – Umsatzsteuer zahlen muss.
Was müsste passieren?
Auch hier ist zu vereinfachen, auf Ausnahmen und Privilegien zu verzichten. Doch die Umsatzsteuer ist, auch durch die Verkomplizierung im EU-Recht, völlig aus dem Ruder gelaufen. Machen wir die Einfachheit zur Richtschnur der Steuerpolitik, brauchen wir nicht mehr 32 Steuerarten. Es genügen vier.
Welche wären das dann neben der Einkommen- und Umsatzsteuer?
Zunächst eine gleichheitsgerechte Erbschaft- und Schenkungsteuer. Hier ist die Reform 2016 völlig misslungen. Es gibt so viele Ausnahmen und Vorzugsregeln, dass man heute einen Großbetrieb praktisch steuerfrei vererben kann. Ein Erbschaftssteuerrecht, das ausgerechnet die größten Vermögen verschont, erfüllt seinen Zweck nicht.
Wie dann?
Alle Erbschaften werden nach demselben Maßstab bewertet und generell mit einem Steuersatz von zehn Prozent belegt. Für Unternehmenserben, deren Vermögen im Unternehmen gebunden ist, kann eine zinsfreie Stundungsregelung die Belastung tragbar gestalten. Den Erbfall unter Ehegatten sollten wir – wie in vielen Ländern – nicht besteuern. Wenn die Eheleute ihr Vermögen gemeinsam erworben, gepflegt und genutzt haben, sollten wir diese Lebensbedingungen für den überlebenden Steuergatten nicht steuerlich verändern. Besteuert werden sollte der Vermögensübergang von der einen zur anderen Generation. Mit dem Reformvorschlag erzielen wir zumindest den doppelten Ertrag des jetzigen Steueraufkommens, das bei sechs bis sieben Milliarden Euro liegt. Das alles lässt sich in zehn Paragraphen in einfacher Sprache regeln. Die Erbschaftsteuer erfüllt dann einen Gerechtigkeitsauftrag: Wer nichts erbt, darf über die Steuern schon ein klein wenig miterben bei fremden Erbfällen.
Und die vierte Steuerart wäre?
Eine spezielle Verbrauchsteuer auf bestimmte Genussgüter und auf Selbstschädigungen wie Tabak und Alkohol. Voraussetzung für diese Reform ist der Mut, das heute viel zu unübersichtliche Steuerrecht einmal gründlich zu überprüfen. Derzeit fehlt die Rechtssicherheit im Steuerrecht. Steuerpflichtige und auch Berater sind häufig überfordert. Die Grenze zwischen zulässiger Steuergestaltung und strafbarer Steuerhinterziehung muss für jedermann im Vorhinein klar erkennbar sein.
Wie bewerten Sie das Modell für eine Grundsteuerreform, die Bundesfinanzminister Olaf Scholz zusammen mit der großen Mehrheit seiner Länderkollegen vorgelegt hat?
Eigentlich passt die Grundsteuer nicht mehr in unsere Zeit. Unser Steuersystem belastet den Vermögenszufluss, also Einkommen, und den Vermögensabfluss, also Konsum. Ruhendes Vermögen wurde im 19. Jahrhundert besteuert. Damals bemühte man sich schlicht, das Geld dort zu holen, wo es ist. Heute denken wir anders. Wer unter den bei uns herrschenden Erwerbsbedingungen erfolgreich gewirtschaftet hat, soll zur Finanzierung dieses Systems beitragen. Dies gilt für den Einkommenserwerb wie für den Einsatz der Kaufkraft. In dieses System passt die Grundsteuer nicht hinein.
Gerade das wollen die Kommunen aber nicht, denen die Grundsteuer zufließt und die sie mit Hebesätzen sogar der Höhe nach bestimmen dürfen.
Die Grundsteuer ist eine Objektsteuer, die von den Kommunen erhoben wird, weil diese die Grundstücke erschlossen, ihnen eine Infrastruktur geboten haben. Doch diese Leistungen – Straßen, Nahverkehr, Wasser, Abwasser, Energie – werden heute meist schon über Gebühren abgegolten oder direkt bezahlt. Damit wird die Rechtfertigung der Grundsteuer fragwürdig. Selbstverständlich darf sie, muss aber nicht erhoben werden. Das steht im Grundgesetz. Ein Blick auf die Erträge in Höhe von etwa 14 Milliarden Euro zeigt, dass bei einem Verzicht auf die Grundsteuer das System nicht zusammenbrechen würde. Der Gesetzgeber könnte stattdessen einen Zuschlag der Gemeinden auf die Einkommensteuer einführen.
Aber dafür gibt es in der Politik kaum Zustimmung. Womit sich die Frage stellt, wie man die Grundsteuer dann regelt.
Die Rechtfertigung der Grundsteuer fordert, diese Steuer nach der kommunal erbrachten Infrastrukturleistung zu bemessen. Maßgeblich ist deshalb, wie viele Nutznießer je Grundstück vorhanden sind. Es geht also um die Nutzung und die Zahl der Wohnungen und Gewerbeeinheiten. Dieser Maßstab wird verfehlt, wenn neben dem Bodenrichtwert auch ein Mietzins einbezogen wird. Dieser wird bereits bei der Einkommensteuer belastet. Eine solche Bemessungsgrundlage wäre auch wohnungspolitisch der falsche Ansatz. Die Mieten sind in Innenstädten besonders hoch, kaum noch bezahlbar. Eine Grundsteuer nach dem Mietzins würde dort die Mieten weiter nach oben treiben. Der Gesetzgeber sollte dort, wo sich Arbeitende eine Wohnung in der Nähe ihres Arbeitsplatzes nicht mehr leisten können, die Wohnungskosten nicht noch über die Grundsteuer weiter verteuern.
In der Koalition beginnt ja nun – sehr spät im Verfahren – ein Grundsatzstreit um die Zuständigkeit: Bund oder Länder. Wie sehen sie das?
Das Problem der Bewertung bietet ein gutes Argument, die Gesetzgebung für die Grundsteuer den Ländern zu überlassen. Dann könnten Flächenländer eine andere Regelung finden als die Stadtstaaten, sie auch besser ihren unterschiedlichen Bedingungen anpassen. Die Stadtstaaten werden das Flächenmodell favorisieren. In Bayern oder Baden-Württemberg könnten teure Ballungsräume anders behandelt werden als ländliche Gegenden.
Wäre eine Öffnungsklausel für die Länder eine Lösung? Die wird ja von Bayern massiv gefordert.
Wenn man schon nicht die Zuständigkeit verlagern will, kann eine Öffnungsklausel hilfreich sein. Dann überlässt der Bund Regelungsteile den Ländern. Damit würden die Landesparlamente an Bedeutung gewinnen, der Föderalismus gestärkt. Bei der Grundsteuer geht es um regionale und sogar um lokale Fragen. Damit wären die Landtage der Gesetzgeber, der diese Verhältnisse besser kennt und situationsnah regeln kann. Man muss das Grundgesetz dafür nicht ändern.
Glauben Sie, dass der Reformstau im Steuerrecht auch mit einer Diffamierung des Themas zu tun hat? Mit einer Angst in der Politik vor den vielen Einzelinteressen? Für die große Koalition scheint es jedenfalls angenehmer zu sein, einfach die Sozialausgaben stetig zu erhöhen…
In der klassischen Auffassung des Parlamentarismus ging man davon aus, die Bürgerschaft, repräsentiert durch ihre Abgeordneten, werde darauf achten, dass die Steuern maßvoll sind und gleichmäßig bemessen werden. Wenn die Bürger selbst über ihre Steuerlasten entscheiden, werden sie sich nicht selbst schädigen und Privilegien nicht zulassen. Dieses demokratische Recht wurde erkämpft, um die Staatsausgaben zu mäßigen, die Schulden zu verringern und dementsprechend die Steuerlast zu begrenzen. Doch das Gegenteil ist passiert: Der Abgeordnete empfiehlt sich dem Wähler nicht mehr als Anwalt gleichmäßiger und gerechter Steuern, sondern als Vordenker für neue Ausgabenprogramme. Glücklicherweise regelt das Grundgesetz heute eine Schuldenbremse. Wir müssen alles dafür tun, dass dieses Gerechtigkeitsinstrument im Generationenvertrag kraftvoll zur Wirkung kommt.
Glauben Sie, dass es überhaupt noch ein Zeitfenster für Reformen gibt?
Die nächsten Jahre bieten eine außerordentliche Reformchance, allein schon durch die Digitalisierung. Algorithmen drängen zur Typisierung und Vereinfachung.
Sie sprechen immer wieder von Vereinfachung. Kommt bald mit den elektronischen Bezahlsystemen das Ende des Bargelds? Begeben wir uns in die Hände der US-Datenkonzerne?
Wir müssen das Bargeld unbedingt erhalten, damit jeder Bürger noch ein paar Scheine zu Hause liegen hat. Wenn er aus irgendeinem Grunde mit dem Bankensystem nicht mehr im Reinen ist und dann von aller Kaufkraft getrennt werden könnte, verschiebt das die Herrschaftsgewalt in einen privaten Sektor. Das wäre außerordentlich beunruhigend.
Wenn man Sie so hört, haben Sie für fast alles eine Idee. Bedauern Sie es, nicht die Chance bekommen zu haben, 2005 Bundesfinanzminister zu werden?
Wenn man als Steuerrechtler sieht, das Schiff fährt in die Irre, könnte aber umgesteuert werden, muss man die Ärmel aufkrempeln und Abhilfe leisten. Aber als Mensch und als ein „Professor aus Heidelberg“ genieße ich persönlich die Freiheit, die mir Wissenschaft und Lehre an der Universität Heidelberg bieten.
Paul Kirchhof, Jahrgang 1943, lehrte viele Jahre an der Universität Heidelberg und war von 1986 bis 1999 am Bundesverfassungsgericht. 2005 war er als Finanzfachmann Mitglied im Wahlkampfteam von Angela Merkel. Auch später machte er immer wieder auf sich aufmerksam als Steuerreformer und Warner vor zu hohen Schulden.
Albert Funk
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