Krieg in den Knochen: Die Bundeswehr übt die Landesverteidigung
Die Truppe kann nicht leisten, was von ihr erwartet wird: Eine Bundeswehr-Lehrübung wird zur lauten Mahnung an die Politik. Doch der fällt eine Antwort schwer.
Es sind zu viele, das schaffen die Ärzte nicht. Alarm! Jetzt müssen sie die Verletzten nach der Schwere der Verletzungen sortieren.
Die Farbskala startet mit sechs „Roten“, die sofort behandelt werden müssen. Sie endet mit „Blau“ – keine Überlebenschance, betreuende Therapie, und „Schwarz“ – Tote. Was nun, Frau Doktor?
Schnitt. So endet die Vorführung des Sanitätsdienstes bei der Bundeswehr-Informationslehrübung Landoperationen, die rund 500 Gäste in Munster als eine Art Netflix-Serie verfolgen konnten.
Nach einer Dreiviertelstunde mit Augenverletzungen, Verbrennungen und Schädel-OP inklusive Sägegeräuschen gibt es nicht nur donnernden Applaus für Oberstabsärztin Andrea Herwig und ihr Team vom Sanitätsregiment 2 von der Tribüne, auf der vor allem Inspekteure, Kommandeure, Militärattachés, Bundestagsabgeordnete und auch Firmenvertreter die Schau im Herbstwind gesehen haben.
Blau und Schwarz, das ruft Verteidigungs-Staatssekretär Peter Tauber auf den Plan. Die Gesellschaft müsse eine breite Diskussion führen, „ob wir das wollen“, sagt er schnell. Auch wenn er beeindruckt ist, mit wie viel, ja er sagt wirklich „Herzblut“, die Sanitäts-Soldaten ihren Dienst tun.
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Die Ärztin sagt, einen solchen Einsatz könnten sie gar nicht bewältigen
Doch die Kompaniechefin nutzt die Gunst der vielen Gäste, um kräftig Kritik zu üben. Einen solchen Einsatz könnten sie gar nicht bewältigen, denn die Ausstattung sei „nicht mehr zeitgemäß“ und „entspricht nicht den Anforderungen“. Die müsse dringend modernisiert und mobiler werden – und sie meinte nicht nur die Klemmbretter für die Patientendaten, mit denen sie hantieren.
Die Kritik an der schlechten Ausrüstung der Truppe ist nicht neu. Dennoch verlässt selbst mancher Uniformierte nach diesem Cliffhanger fürs nächste Jahr nachdenklich die Tribüne.
Gestorben wird in der Übung frühestens in der zweiten Staffel der Serie. Doch allen ist klar, worum es hier geht: die Bundeswehr im Krieg. Das Wort spricht auch ein Ministerialer aus, ohne dass er damit genannt werden will.
Und dabei geht es um einen Krieg in der Nähe. Ein Anderer, für Ausbildung verantwortlich, sagt: „Die Bundeswehr braucht fünf bis zehn Milliarden Euro mehr jedes Jahr, einen großen Teil davon für den Sanitätsdienst.“
Es sei ganz egal, ob das Nato-Ziel bei anderthalb oder zwei Prozent liege. Klar sei: „So kann es nicht weitergehen.“ Er schiebt hinterher: „Es geht um Ausrüstung, nicht um Aufrüstung“, wie Kritiker einer kräftigen Aufstockung des Verteidigungsetats befürchten.
Die Cyberspezialisten greifen ohne Bundestagsbeschluss an
Auf der nächsten Station des Tages beschallen die Cyberspezialisten die Gäste mit einer bunten und schnellen Multimediaschau in einem weißen Kuppelzelt, das an die Abhörkugeln der ehemaligen Alliierten auf dem Berliner Teufelsberg erinnert.
Der Gegner legt einen Teil der Stromversorgung lahm, auch Blogger und Influencer aus dem imaginären Angreiferland Wislanien machen mit Falschinformationen im Sinne der gegnerischen Regierung Stimmung, nehmen Einfluss. Ohne sie mit einem Wort zu nennen sind damit Russland, China und allerlei andere Länder in den Köpfen vieler Zuschauer.
Nicht nur um Boden werde gekämpft, der Kampf um Bits und Bites sei mindestens ebenso wichtig, betonen die Verantwortlichen. Und ganz nebenbei gibt das Verteidigungsministerium der Cybertruppe den Befehl zum Angriff. Das Ministerium? Auch Staatssekretär Tauber wundert sich: Wo ist der Bundestag? Er spielt im Szenario der deutschen Parlamentsarmee keine Rolle.
Tauber erhebt seine Stimme an dieser Stelle allerdings nicht übers Mikrofon. Haben die Cyberleute einfach schon mal einen Vorratsbeschluss des Parlaments eingepreist, den manche Strategen fordern, damit im Fall der Fälle der Bundestag nicht immer wieder gefragt werden muss? Sind sie längst in den Netzen der anderen unterwegs?
Der Inspekteur sagt: Einfach alle Logistik outsourcen, das geht nicht
Zwischenstopp bei den Logistikern, die mit einem lebendigen Wimmelbild samt erklärendem Moderator zeigen, wie sie ein Bataillon mit 650 Soldaten in einen Verteidigungseinsatz bringen.
Überall auf dem Gelände ist was los. Zelte werden aufgebaut, ein Tanklager angelegt, Container abgeladen und gestapelt, Gelände planiert, Panzer werden repariert und verladen, Fäkalien entsorgt. Doch auch hier die Mahnung: Im Ernstfall müssten mindestens 1200 Soldaten ins Einsatzland, dafür seien die Logistiker nicht aufgestellt.
Die Verlegung, wie es bei der Bundeswehr heißt, sei immer am Anfang nötig und sie brauche Zeit, hören die Gäste. Und: Der so genannte „Magic Move ist völlig unmöglich“.
Der Inspekteur der Streitkräftebasis, Generalleutnant Martin Schelleis, setzt noch eins drauf. Er habe auf der Tribüne gehört, das könne man doch alles outsourcen. Seine Antwort: ein klares Nein.
Bei Bustransport, Verpflegung oder Sanitäranlagen, sei das vielleicht möglich, ruft er den Generälen, Admirälen und anderen Kommandeuren zu. Das machen auch andere Nationen so und das Ministerium hat Firmen wie DHL und Schenker für solche Aufgaben längst im Blick. Schelleis mahnt, sie hätten „schon 2000 Dienststellen abgezogen“. Allerdings müssten die zivilen Partner für diese Pläne erst einmal unter Vertrag genommen werden und die Verfügbarkeit gesichert sein, warnt der Generalleutnant.
Hier bebt jeder Körper bei jedem Schuss
Am Ende folgt das, was die Bundeswehr selbst den Höhepunkt ihrer Leistungsschau nennt: das Gefechtsschießen.
Regen peitscht von vorn auf die Tribüne, Ehrengäste und einige andere können mit Wolldecken dem schneidenden Wind trotzen, ohne Gehörschutz darf hier niemand sitzen, der keine bleibenden Schäden davontragen will. Knapp zwei Stunden werden sie Zeugen, wie deutsche, österreichische und niederländische Panzergrenadiere den Angriff imaginärer Feinde auf ein im Herbstmatsch liegendes Übungsdorf erst verzögern und schließlich zurückschlagen.
Dass die Aufklärungsdrohne Aladin wegen Wind heute nicht starten kann, geht im Pulverdampf fast unter. Jetzt zeigen all die getarnten Panzer mit den Tiernamen und der schmale Tiger-Hubschrauber, was sie können. Sie alle sind am Morgen wie auf einer Rüstungsmesse vorgestellt worden. Sogar Eurofighter sind heute im Einsatz. Die haben selbst ältere Semester alle schon erlebt.
Der Führungsnachwuchs braucht diese Bilder, betont Heeresinspekteur Generalleutnant Jörg Vollmer. Denn die angehenden Offiziere kennen sie nicht.
Nächstes Jahr, kündigt er an, werde der Kommandierende nicht mehr mit auf einem Whiteboard den Aufmarsch planen, sondern seine Befehle per Laptop und das neue Battlemanagement-System erteilen. Aber, mahnt auch er die Entscheider: Das alles „muss schneller kommen“, denn die Soldaten setzten Leib und Leben ein.
Mancher guckt da nur kurz skeptisch auf sein Handy – den ganzen Tag über schon gibt es kaum Empfang. Und was ist mit all der schönen Technik, wenn der Cyberwar so richtig losgeht? Da muss das System mit den sensiblen Daten sehr gut geschützt sein. Ob die Bundeswehr auf dem Weg in die Zukunft schon so weit ist, da hat der eine oder andere seine Zweifel.
Leuchtspur und Kanonendonner sind heute keine Bilder der türkischen Attacke auf Syrien aus den Nachrichten. Hier bebt jeder Körper bei jedem einzelnen Schuss. Der Krieg kriecht in die klammen Knochen. Jeder spürt durch und durch, was so ein Kampf heißt. Dagegen hilft kein Ohrstöpsel.
Peter Tauber: Politisch haben wir nicht immer die richtigen Antworten
Die Botschaft aus Niedersachsen ist klar: Die Soldaten bereiten sich auf einen Krieg vor, in dem sie ein Nato-Partnerland verteidigen müssen. Was der Generalleutnant mit dem weißen Schnäuzer zum Abschluss sagt, hallt nach wie der Satz eines anderen Schnäuzerträgers, Peter Struck. Der sagte damals, Deutschlands Sicherheit werde auch am Hindukusch verteidigt. Heeresinspekteur Vollmer sagt: „Landesverteidigung heute heißt Bündnisverteidigung“ – an den Außengrenzen der Nato. Soll keiner meinen, dass es bei der im vergangenen Jahr beschlossenen Umorientierung vor allem um die Verteidigung in den eigenen Landesgrenzen gehe.
Tauber gesteht in seinem Schlusswort, auf die neuen Bedrohungen hätten „wir auch politisch vielleicht nicht immer die richtigen Antworten“. Die Einsatzbereitschaft scheitere nicht an den Männern und Frauen der Bundeswehr. Die Frage sei: „Sind wir bereit, für andere zu tun, was andere 70 Jahre für uns getan haben?“ Für Tauber ist klar: „Jetzt sind wir gefordert.“ Die Truppe freut’s. Bundestag und Bürger auch?