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Frost überzieht ein Wegekreuz in der Nähe des Berges "Höchsten" in Baden-Württemberg.
© Felix Kästle/dpa

Umgang mit dem Missbrauch: „Die Bischöfe fahren diese Kirche an die Wand“

Matthias Katsch wurde an einem Jesuiten-Kolleg missbraucht. Der Opfer-Sprecher fordert, dass sich die katholische Kirche ihrer Schuld stellt.

Die Missbrauchsstudie der katholischen Bischofskonferenz offenbart tausendfachen Missbrauch durch Klerikale. Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, ist „tief beschämt und erschüttert von der Realität des Missbrauchs“. Diese Realität ist allerdings seit vielen Jahren bekannt. Nehmen Sie ihm die Reue ab?

Ich bezweifle nicht seine Betroffenheit. Aber mich verwundert, dass er verwundert ist. Die Zahlen sind ja keine Überraschung. Zudem gehe ich davon aus, dass die tatsächliche Dimension noch viel größer ist als in der Studie dargestellt.

Sie gehen von einer viel höheren Dunkelziffer aus?

Von einer deutlich höheren.

Offiziell sind 3677 Fälle dokumentiert.

Offiziell, ja. Aber eine noch unveröffentlichte Studie der Universität Ulm rechnet mit über 100.000 Opfern.

Vermuten Sie, dass die Dimension – übertragen auf Deutschland – ähnlich dramatisch ist wie die in den USA? Dort enthüllte eine unabhängige Grand Jury gerade, dass allein im Bundesstaat Pennsylvania rund 1000 Minderjährige von mindestens 300 Priestern missbraucht wurden. Der Aufschrei in den USA war groß.

Eindeutig: ja. Für die deutsche Studie durften ja ganze Bereiche der Kirche gar nicht untersucht werden. Die Ordensgemeinschaften etwa, darunter also auch das Canisius-Kolleg in Berlin, an dem ich Opfer wurde. Auch die Heimerziehung und die Frauen-Kongregationen wurden nicht berücksichtigt. Die Institution Katholische Kirche hatte zudem nie ein Interesse daran, alle Opfer zu erfassen.

Weshalb nicht?

Ganz einfach, sie hat das Verbrechen des Kindesmissbrauchs gar nicht wahrgenommen, sondern hatte vielmehr den Verstoß des Klerikers gegen sein Zölibat-Versprechen im Blick. Im Kirchenrecht ist das bis heute so.

Die Bischofskonferenz verkündete Maßnahmen aufgrund der Studie. Sie als Sprecher der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ erklärten, diese Maßnahmen machten Sie fassungslos. Was entsetzt Sie so?

Die Bischofskonferenz hat keine konkreten Schritte beschlossen. Jetzt will man über bestimmte Themen nachdenken. Offensichtlich wollen sich die Bischöfe sehr viel Zeit lassen beim Thema Missbrauch. Das ist sehr wenig angesichts der Bestürzung, die sie zuvor gezeigt hatten.

Was fordern Sie denn konkret?

In erster Linie, dass die Bischöfe an einer staatlichen Aufarbeitung mitarbeiten. In Pennsylvania, in den USA also, und in Australien ist das ja passiert. Und sie sollen über das Thema Entschädigung sprechen. Die Opfer müssen endlich für das Versagen der Institution Kirche entschädigt werden. Die Studie räumt mit der Ausrede auf, dass es sich bei dem Missbrauch um eine bedauerliche Vielzahl von Einzelfällen handele. In Wirklichkeit gab es eine Kultur des Missbrauchs und der Vertuschung.

Die katholische Kirche entschädigt bisher Opfer „in Anerkennung des Leids“, nicht aber der Schuld. Wie gravierend ist für Opfer dieser Unterschied?

Bisher entschädigt die Kirche eben nicht. Sie leistet nur eine symbolische Anerkennung. Der Unterschied ist enorm. Denn so wird die Schuld allein auf die Täter abgewälzt, aber die Mitschuld der Institution für die Tat und den Umgang mit der Tat beiseitegewischt. Das erleben Opfer als ein zweites Verbrechen. Die beiden Täter am Canisius-Kolleg haben jahrzehntelang missbraucht. Ich hätte nicht Opfer werden müssen, wenn die kirchlichen Vorgesetzten der beiden früher gehandelt hätten. Und auch nach meinem Missbrauchsfall wäre anderen Kindern in den darauffolgenden Jahrzehnten viel Leid erspart geblieben.

Matthias Katsch, Sprecher des Betroffenenverband "Eckiger Tisch". Katsch ist ehemaliger Schüler des Canisius-Kollegs Berlin, einer Jesuitenschule.
Matthias Katsch, Sprecher des Betroffenenverband "Eckiger Tisch". Katsch ist ehemaliger Schüler des Canisius-Kollegs Berlin, einer Jesuitenschule.
© Arne Dedert/dpa

Die Kirche bezahlt einem Opfer meist maximal 5000 Euro. Halten Sie das für angemessen?

Die Summe soll nur eine symbolische Anerkennung sein. Schon als solche ist sie ein Affront. Aber wenn man sie als Entschädigung betrachten soll, ist sie absolut lächerlich.

Seelisches Leid kann man nicht beziffern. Gleichwohl: Welche Summe halten Sie für angemessen?

Missbrauch hat einen Einfluss auf das berufliche Leben, er beeinträchtigt zwischenmenschliche Beziehungen und Partnerschaften und oft das Sexualleben. Viele Opfer haben psychische Probleme, manche haben Suchterkrankungen entwickelt. Nicht wenige sind heute arm. Das muss man sich alles vor Augen halten. Vor diesem Hintergrund halte ich eine deutlich sechsstellige Summe für angemessen.

In einer Kirchengemeinde in Berlin hat im September ein Mann Mitte 60 erstmals über seinen 50 Jahre alten Missbrauchsfall geredet, ermutigt durch die Studie. Vielleicht gibt es ja in vielen Gemeinden missbrauchte Menschen, die sich jetzt öffnen. War die Studie eine Art Initialzündung?

Ich denke, die Initialzündung hat 2010 stattgefunden, als die Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg in Berlin bekannt wurden. Da haben innerhalb weniger Wochen deutschlandweit Hunderte Männer und Frauen über ihre Erfahrung mit Missbrauch gesprochen. Seither reißt das Erzählen über dieses Leid nicht ab. Jedes Mal, wenn öffentlich Debatten stattfinden – wie jetzt aufgrund der Studie –, werden Menschen an ihre Geschichte herangeführt und reden darüber. Sehr viele Betroffene, mich eingeschlossen, haben es als sehr befreiend empfunden, dass sie über diese Erlebnisse reden konnten.

Viele Opfer, die sich an die Kirche gewandt haben, beklagen sich. Man habe sie nicht ernst genommen, sie fühlten sich abgewiesen oder man habe ihnen schlicht nicht geglaubt. Hat die Kirche immer noch nicht verstanden?

Die Reaktion auf die Opfer ist oft eine Mischung aus Herablassung, weil sich die Kirche in einer mächtigeren Position befindet, und schlechtem Gewissen. Wenn man die Briefe an die Betroffenen liest, merkt man wenig von Empathie. Dafür aber umso mehr von den Sorgen um das Ansehen der Institution.

Worüber beklagen sich die Opfer, die an den „Eckigen Tisch“ schreiben?

Sie empören sich vor allem darüber, dass niemand zur Rechenschaft gezogen wird. Die Opfer wissen natürlich, dass viele Taten verjährt sind und die Täter deshalb nicht mehr bestraft werden können. Aber sie registrieren fassungslos, dass die Institution Kirche, die diese Täter geschützt hat, öffentlich nicht stärker in die Verantwortung genommen wird. Die Opfer richten ja auch einen Appell an die Gesellschaft: Ihr müsst den Druck auf die Kirche erhöhen, damit sie ihr Verhalten ändert. In ihrer Studie sagen die Wissenschaftler ja ganz deutlich: Das System, das diesen Missbrauch ermöglicht hat, funktioniert noch. Kinder und Jugendliche sind immer noch akut gefährdet.

Das System Kirche besteht ja auch aus extremer Hierarchie, Männerbündelei, verklemmtem Umgang mit Sexualität. Muss die Kirche also ihr System ändern?

Sie begreift allmählich, dass sexuelle Gewalt in der Kirche nicht etwas Marginales ist. Es steht im Gegenteil im Zentrum der Institution, und es beschädigt das Ansehen der Kirche. Eine Reform muss natürlich an grundsätzlichen Punkten ansetzen: die Rolle des Priesters, die Rolle der Frau, solche Fragen.

Fünfmal mehr Priester als verheiratete Diakone sind als Täter aufgefallen. Ist das ein Zeichen dafür, dass das Zölibat überholt ist?

Das Zölibat ist nur ein Teil des Problems. Es geht um den missbräuchlichen Umgang mit Macht, das überkommene Verständnis von Sexualität und das neurotische Verhältnis zur Homosexualität. Die Rolle des Priesters und die priesterliche Lebensform muss angegangen werden, auch wenn es keinen direkten Zusammenhang von Missbrauch und Zölibat gibt. Der Kampf gegen Missbrauch wird erfolglos bleiben, wenn das Pflichtzölibat mit seinen Nebenwirkungen aufrechterhalten bleibt.

Dann passt also der Umgang des Vatikans mit dem Jesuitenpater Ansgar Wucherpfennig, Experte für das Neue Testament und Rektor der Theologisch-Philosophischen Hochschule St. Georgen, ins Bild? Wucherpfennig hatte die biblischen Verurteilungen der Homosexualität als „tiefsitzende, zum Teil missverständlich formulierte Stellen“ bezeichnet. Die Bildungskongregation im Vatikan verweigert ihm deshalb die Unbedenklichkeitserklärung und verlangt einen öffentlichen Widerruf.

Ja, genau. Einen Wissenschaftler zum öffentlichen Widerruf aufzufordern, 2018 in Deutschland, der nur versucht, die katholische Lehre vorsichtig weiterzuentwickeln und näher an die Wirklichkeit zu führen, zeugt von dem Machtmissbrauch, Mangel an Transparenz und der verqueren Haltung zur Sexualität und Homosexualität, die in der Studie als ursächlich für den massenhaften sexuellen Missbrauch in der Kirche identifiziert wurde. Das ist nicht nur ein schlimmer Vorgang, der entlarvt, was von den Worten der Betroffenheit zu halten ist. Es ist auch eine Dummheit, weil sich in der Kirche eine neue Denkweise anzudeuten schien, ermutigt durch Franziskus.

Melden sich bei Ihnen Kleriker, die sagen, so kann es mit dem System Kirche nicht mehr weitergehen?

Ich habe und hatte Kontakt mit Priestern, die das so sehen. Und zunehmend sagen Geistliche das auch öffentlich. Der Stadtdekan von Frankfurt erklärte kürzlich in einer Fernsehsendung, das Pflichtzölibat müsse überwunden werden.

Seit 2010 gibt die Leitlinie der Bischofskonferenz vor, dass beim Verdacht von Missbrauch die Strafverfolgungsbehörde eingeschaltet werden muss. Genügt Ihnen das?

Es gibt da bislang eine wesentliche Einschränkung. Die Staatsanwaltschaft muss nur eingeschaltet werden, wenn das Opfer zustimmt. Aber die Kirche als Arbeitgeber muss klarstellen, dass sie grundsätzlich bei einem Verdacht die Staatsanwaltschaft informiert. Ich bezweifle im Übrigen, dass die Kirche insgesamt vorbehaltlos mit den Behörden zusammenarbeitet. Die Kirche müsste doch jetzt viel bereitwilliger als bisher der Staatsanwaltschaft mitteilen: Bitte ermittelt. In der Studie werden ja nicht bloß Straftaten erwähnt, die verjährt sind.

Der Kölner Erzbischof Woelki fordert auch eine Unabhängige Kommission. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Das hängt von den Feinheiten der Aufarbeitung ab, aber grundsätzlich begrüße ich diesen Schritt. Bemerkenswert finde ich, dass er diese Forderung schon vor der Bischofskonferenz erhoben hat. Und was passiert? Seine Bischofskollegen haben wenige Tage später diese Forderung nicht aufgenommen und nicht in einer gemeinsamen Erklärung formuliert.

Pater Klaus Mertes, der frühere Leiter des Canisius-Kollegs, sagt: „Die Katholiken schämen sich fremd für ihre Bischöfe. Die Volksseele kocht.“ Davon ist nichts zu erkennen. Übertreibt er?

Ich bin erstaunt, wie still die Laien in der Kirche nach den Ergebnissen der Studie geblieben sind. Das war in anderen Teilen der Welt teilweise anders, als dort Missbrauchsfälle bekannt geworden sind. Ich war dabei, als wütende Demonstranten den Papst in Chile empfingen. Ich hätte mir gewünscht, dass katholische Laien bei der Bischofskonferenz auch demonstrierten. Wenn diese Stille Ausdruck von Fremdscham ist, kann ich das nachvollziehen, aber ich wünschte mir mehr kämpferischen Einsatz.

Warum wird in Chile und in Irland protestiert, aber nicht in Deutschland?

Die jahrzehntelange Unterdrückung von Opposition in der Kirche spielt sicher eine Rolle. Jedes Abweichen von der römischen Linie wurde bestraft. Diesen Fatalismus kennen wir aus dem Endstadium des Ostblocks. Dissidenten wurden ins Ausland abgeschoben, der Großteil der Menschen resignierte oder zog sich in die innere Emigration zurück. Viele Laien in der Kirche konzentrieren sich nur noch auf die Arbeit in der Gemeinde. Aber ich hoffe, dass die Laien bald begreifen, dass sie diese Kirche retten müssen. Denn die Bischöfe sind dabei, diese Kirche an die Wand zu fahren.

Papst Franziskus gilt für viele katholische Laien als Hoffnungsträger. Allerdings wirft man ihm vor, er habe als argentinischer Erzbischof Täter in seiner Kirche geschützt. Ist er für Sie ein Hoffnungsträger?

Ich kann mir in einer „Kultur des Missbrauchs und der Vertuschung“, das ist ein Zitat von Franziskus, nicht vorstellen, dass ein Bischof von diesem System unberührt geblieben ist. Mich wundern diese Vorwürfe also nicht. Stattdessen wundere ich mich, dass deutsche Bischöfe auf die Frage, ob sie sich auch persönlich verantwortlich für dieses System der Vertuschung fühlen, schlicht sagten: nein. Umso wichtiger, dass Franziskus jetzt begonnen hat, dieses System zu sprengen.

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