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Erste Hilfe. Ein verletzter Junge wird in Aleppo medizinisch versorgt.
© Karam al Masri/AFP

Krieg in Syrien: Die Apokalypse von Aleppo

In Syrien sprechen wieder die Waffen. Der Westen wirft Baschar al Assad und Wladimir Putin „Barbarei“ und Kriegsverbrechen vor. Welche Folgen hat die Offensive?

An scharfen Worten herrscht kein Mangel. Von Kriegsverbrechen ist die Rede. Von Beistand für ein mörderisches Regime. Von unfassbarer Brutalität. Gerichtet sind diese Vorwürfe an die Adresse Moskaus, gemeint die Angriffe auf Aleppo.

UN-Botschafterin Samantha Power fasste die Enttäuschung der USA so zusammen: „Was Russland tut, ist nicht Anti-Terror-Kampf, es ist Barbarei.“ Und Frankreichs Vertreter bei den Vereinten Nationen, François Delattre, stellte die syrische Stadt in eine Reihe mit anderen Verheerungen: „In vielerlei Hinsicht ist Aleppo für Syrien das, was Sarajevo für Bosnien war, oder was Guernica für den Spanischen Bürgerkrieg war.“

Was wird Moskau und dem Regime in Damaskus vorgeworfen?

Aus Aleppo gehen seit Tagen apokalyptische Bilder um die Welt: Straßenzüge, die dem Erdboden gleichgemacht sind, Menschen, die schwer verletzt aus den Trümmern ihrer Häuser gezogen werden. Hunderte Menschen sind bei den jüngsten Luftangriffen auf Aleppo getötet worden, Ärzte und Helfer werden selbst zu Zielen. In der vergangenen Woche wurde sogar ein UN-Hilfskonvoi angegriffen. „Der systematische Einsatz von weitreichenden Waffen in dicht besiedelten Gebieten ist ein Kriegsverbrechen“, sagte UN-Generalsekretär Ban Ki Moon. Sein Sondergesandter für Syrien, Staffan de Mistura, sprach von „beispielloser militärischer Gewalt“.

Der britische UN-Botschafter Matthew Rycroft erhob wie seine US-Kollegin schwere Vorwürfe gegen das Regime von Staatschef Baschar al Assad und gegen Russland, das nicht nur wichtigster Verbündeter Assads ist, sondern in Syrien Krieg führt: „Nach fünf Jahren Konflikt könnte man denken, dass das Regime von der Barbarei gesättigt ist, dass seine krankhafte Blutgier gegen das eigene Volk gestillt sei. Aber an diesem Wochenende sind das Regime und Russland in neue Tiefen gestürzt und haben eine neue Hölle über Aleppo entfesselt.“ Moskau wies die Vorwürfe zurück und sprach von einem „inakzeptablen Ton“. Die Äußerungen könnten in den Syrien-Gesprächen „ernsten Schaden“ anrichten, warnte Dmitri Peskow, der Sprecher von Präsident Wladimir Putin.

Welche Ziele verfolgen Assad und Russland mit den Angriffen?

Aleppo gilt als einzige Großstadt, die zum Teil noch von den Gegnern Assads kontrolliert wird. Sollte das syrische Regime mit russischer Unterstützung diese letzte Bastion der Rebellen einnehmen, könnte dies ein militärischer Wendepunkt im Syrien-Krieg sein. Seitdem Assad auf die russische Luftwaffe zählen kann, hat sich das Blatt für ihn gewendet, ein Sieg über die Rebellen scheint greifbar. Und während unter Vermittlung der Vereinten Nationen im schweizerischen Genf immer wieder nach Wegen zu einer Beendigung dieses Krieges gesucht wird, ist Assad offenbar überzeugt, den Konflikt mit Waffengewalt für sich entscheiden zu können.

Luftangriffe auf die Großstadt Aleppo sollen den Widerstand gegen den Staatschef und sein Regime endgültig brechen. Beobachter fühlen sich dabei an die Bombardierung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny erinnert. Auch dort hatte Moskau 1999 die heftigen Angriffe mit dem Kampf gegen den Terrorismus begründet.

Wie groß ist Russlands militärische Schlagkraft in Syrien?

Vor fast genau einem Jahr griff Russland zur Überraschung des Westens militärisch in den Syrien-Krieg ein, Assad habe um Hilfe gegen die „Terroristen“ gebeten, lautete die Begründung. Wie viele Soldaten tatsächlich vor Ort sind, hält der Kreml geheim. Doch am Rande der Parlamentswahl in Russland wurde versehentlich bekannt, dass deutlich mehr Russen in Syrien stationiert sind, als Moskau bisher zugegeben hat: Mehr als 4700 russische Bürger gaben dort nach Angaben der Zentralen Wahlkommission ihre Stimme ab.

Russland hat Kampfflugzeuge, Bomber und Flugabwehrsysteme in Syrien im Einsatz. Hinzu kommt der Marinestützpunkt im Mittelmeerhafen Tartus, der für Moskau eine strategische Bedeutung hat. Von dem Einsatz in Syrien bekommt die russische Bevölkerung nur wenig mit: Das Staatsfernsehen berichtet praktisch nicht über die Angriffe auf Aleppo.

Welche Waffen werden eingesetzt?

Auf Aleppo geht seit Tagen ein regelrechter Bombenhagel nieder. Fachleute wie Einwohner sind sich einig, dass es sich um die verheerendsten Luftangriffe seit Monaten handelt, wenn nicht gar seit Jahren. Offenbar setzen das syrische Regime und sein russischer Verbündeter nun verstärkt auf Waffen, die besondere Zerstörungskraft besitzen. Laut dem dortigen Zivilschutz werden außer Fassbomben inzwischen auch Phosphor-, Napalm- und Streubomben eingesetzt. „Wir haben Berichte, Videos und Bilder von gemeldeten Brandbombeneinsätzen gesehen, die so gewaltige Feuerbälle erzeugen, dass sie die pechschwarze Dunkelheit in Ost-Aleppo erleuchten, als ob es Tag wäre“, heißt es in einer Erklärung des UN-Vermittlers de Mistura.

Es gibt dem Diplomaten zufolge zudem Hinweise auf bunkerbrechende Bomben. Dafür sprächen etwa Aufnahmen von Erdkratern, die viel größer sind als bei früheren Einschlägen. Diese Art Waffe lässt Gebäude wie Kartenhäuser zusammenfallen und zerstört Keller, in denen Menschen womöglich Schutz suchen. In der Vergangenheit gab es auch immer wieder den Vorwurf, das Assad-Regime setze chemische Kampfstoffe wie Chlorgas ein.

Waffen mit großer Zerstörungskraft werden bei der Schlacht um Aleppo eingesetzt.
Waffen mit großer Zerstörungskraft werden bei der Schlacht um Aleppo eingesetzt.
© Ameer Alhalbi/AFP

Was bedeuten die Angriffe für Aleppos Einwohner?

In einer von „Zeit Online“ veröffentlichten E-Mail hat der Syrer Zouhir al Shimale vor wenigen Tagen die Situation der Einwohner eindrücklich beschrieben. Er habe während der vergangenen Kriegsjahre noch nie so viel Angst gehabt wie jetzt. „Wir hocken in unseren Wohnungen und hoffen, das wir nicht von den Bomben getroffen werden. Niemand geht mehr zur Arbeit, weil es zu gefährlich ist, sich draußen zu bewegen. Nur ein paar Krankenstationen und Läden haben noch auf.“

Damit ist wohl treffend zusammengefasst, was die Menschen derzeit durchmachen: die Hölle auf Erden. In Aleppo mangelt es an allem. Medikamente sind ebenso rar wie Lebensmittel. Schon lange hat kein Hilfskonvoi mehr die Stadt erreicht. Weil ein Wasserwerk beschädigt und dann als Vergeltungsmaßnahme eine Pumpanlage abgestellt wurde, sind fast zwei Millionen Menschen von der Wasserversorgung abgeschnitten. Sofern es überhaupt noch funktionierende Kliniken gibt, sind sie durch die große Zahl der Verletzten völlig überfordert. Als dramatisch gilt vor allem die Lage der 250.000 Menschen, die in den von Aufständischen gehaltenen und vom Regime belagerten östlichen Bezirken ausharren.

Unter der Schlacht um Aleppo leiden vor allem Kinder. Nach Informationen der Hilfsorganisation Save the Children sind mehr als 50 Prozent der Gewaltopfer Mädchen und Jungen. Oft würden sie sterben, weil weder Antibiotika noch Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen. Allein im Ostteil der Stadt sind laut Schätzungen von Unicef bis zu 100.000 Kinder in Lebensgefahr. Viele sind aufgrund fehlender Versorgung mangelernährt und daher extrem geschwächt.

Kann die Diplomatie etwas ausrichten?

Das dürfte angesichts der jüngsten Offensive schwierig werden. Beobachter geben einer politischen Lösung in Syrien unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum noch eine Chance, sprechen inzwischen hinter vorgehaltener Hand sogar von einer „mission impossible“. Zu oft sind Zusagen umgehend wieder gebrochen worden. Selbst die Hoffnungen auf eine Waffenruhe hat man rasch unter den Trümmern zerstörter Häuser begraben müssen.

Die Resignation ist auch so groß, weil keinerlei Mangel an Gesprächen herrschte. Es wurde viel geredet – aber eben ohne jeden greifbaren Erfolg. Zu unvereinbar sind vor allem die Positionen der USA und Russlands. Wie zu Zeiten des Kalten Kriegs belauern sich beide Großmächte, misstrauen einander. Doch wenn Washington und Moskau in den Verhandlungen nicht ihren Einfluss geltend machen, wird sich kaum etwas in Syrien bewegen. Hinzu kommt, dass der lokale Aufstand gegen einen Despoten zu einem unüberschaubaren Konflikt vieler, zum Teil verfeindeter Interessengruppen mutiert ist.

Bemüht, aber bisher erfolglos: Seit zwei Jahren versucht Staffan de Mistura im Auftrag der UN in Syrien zu vermitteln.
Bemüht, aber bisher erfolglos: Seit zwei Jahren versucht Staffan de Mistura im Auftrag der UN in Syrien zu vermitteln.
© Andrew Kelly/Reuters

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