Wahlerfolg der Populisten: Die Angst vor der AfD und der eigenen Courage
Migrationspolitik ist Deutschlands und Europas Zukunft. Die AfD hat das nicht begriffen, und die andere trauen sich an das Thema nicht mehr ran. Eine Feigheit, die sich nicht auszahlen wird. Eine Kolumne
Eigentlich schade. Keiner hatte bei Anne Wills Talkshow am Sonntagabend den 76-jährigen Hatzredner Alexander Gauland („Wir werden sie jagen!“) angesichts aller AfD-Beschwörungen des Völkisch-Deutschen das denkbar Einfachste gefragt: „Wer wird Sie wohl in zehn oder 15 Jahren einmal pflegen?“ Gaulands wahre Volksgenossinnen und Volksgenossen werden es wohl eher nicht sein. Sie wären es nämlich schon heute nicht mehr.
Stellen wir uns nur für einen Moment jenes biodeutsche, von Einwanderern weitgehend befreite Stammland vor, das die AfD im eigenen Idealfall will (und verspricht). Es wäre, von Ausnahmen abgesehen, nicht nur eine gastronomische, kulinarische Ödnis und hätte eine recht rumpelkickende Fußballnationalmannschaft. Vor allem aber wäre es eine Servicewüste, auf nahezu allen wirklich lebenswichtigen Gebieten.
Denn Migranten und Migrantenkinder sind es, die heute in Krankenhäusern, Pflegeheimen, in Arztpraxen, auf dem Bau oder in Supermärkten, in Fabriken und öffentlichen Institutionen, in Orchestern oder Sportvereinen auf nahezu allen Ebenen das im Ganzen so erfolgreiche Land mit am Laufen halten.
Muss man über den demografischen Faktor, über den von der Wirtschaft vor allem in mittelständischen Betrieben und im Handwerk beklagten Mangel an Facharbeitern und Nachwuchskräften überhaupt noch ernsthaft reden?
Man muss es offenbar. Denn nicht nur beim desaströsen, weil von Falschfragern moderierten TV-Duell zwischen Merkel und Schulz, nein, in weiten Teilen des gerade überstandenen Bundestagswahlkampfes wurden die Themen Migration und Integration nur noch negativ und repressiv verhandelt. Relationen zwischen der Mehrheit der 2015 ins Land gekommenen Flüchtlinge und einzelnen (intolerablen) Kriminalfällen haben sich da verschoben; für eine Reflexion der Ursachen und der präventiven Integration blieb kaum Raum. Von Abschiebung war dauernd, von Aufnahme und ihren notwendigen Folgen war kaum noch die Rede. In der Wahlwerbung schon gar nicht.
Ruth Klüger, die jetzt 85-jährige, in Kalifornien wohnende Germanistin, Schriftstellerin und einst Überlebende des Mordlagers Auschwitz, sie hat in einem bewegenden langen Gespräch mit dem „SZ“-Magazin im Sommer gesagt: Die „Emigrantenpolitik der Merkel-Regierung“ (im Jahr 2015) sei für sie ein entscheidendes Indiz gewesen, dass „die Auseinandersetzung mit der Nazizeit aufgeklärt und progressiv gewirkt“ habe.
Genützt hat die Feigheit ohnehin nichts
Wie feig war es freilich, den in der Realität noch keineswegs widerlegten und für jedes in die Zukunft weisendes Handeln schier unersetzlichen Zuspruch-Satz „Wir schaffen das“ nicht weiter offen und offensiv zu vertreten. Und ihn auch der verunsicherten Bevölkerung mit guten, das heißt in vielem auch selbstkritischen Argumenten zu erklären. Statt ihn aus bloßer Angst vor der AfD (und Teilen der CSU) gleichsam unerklärt zu verdrängen und am liebsten vergessen machen zu wollen.
Genützt hat die Feigheit vor der eigenen Courage, wie der Sonntag gezeigt hat, ohnehin nicht.
Vielleicht also bringt ein Amalgam von grünem und freidemokratischem Denken die Union ja tatsächlich dazu, klar einzugestehen, dass Deutschland in der Mitte Europas und im Zeitalter wachsender weltweiter Migrationen ein Einwanderungsland ist. Dass wir Einwanderer (und nicht nur semantisch verbrämte „Zuwanderer“) haben und ökonomisch wie auch lebenskulturell brauchen. Wofür es endlich ein Einwanderungsgesetz und angesichts der Größe der Aufgaben sinnvollerweise ein Einwanderungsministerium geben sollte.
Eine rationale, aufklärende oder noch besser: aufgeklärte Auseinandersetzung über die Flüchtlings- und Migrationspolitik ist heute, nicht nur in Deutschland, eine Herausforderung – für ein zukunftsfähiges Europa. Ist, damit verbunden, eine gesellschaftliche Aufgabe, was Bildung, Selbstvergewisserung und die eigene Sicherheit angeht. Dazu gehört, wie jetzt überall gesagt wird, auch das Ernstnehmen von Besorgnissen. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach den ersten fremdenfeindlichen Ausschreitungen im wiedervereinigten Land ist es allerdings vor allem für Konservative und Linke höchste Zeit, sich einzugestehen, dass als Erbe der DDR-Abschottungsdiktatur sich gerade in Ostdeutschland rechts und links an den breiten Rändern zu einer Art national-sozialistischem Gebräu verbinden. Wer das nicht klar benennt, überlässt Sachsen und Dresden einer neuen Fatalität.