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Anhänger von Präsident Erdogan
© AFP/Adem Altan

Türkei: Die Angst ist Erdogans Machtbasis

Wer wird als Nächster verhaftet? Wer könnte mich denunzieren? Und warum? Diese bangen Fragen gehören in der Türkei jetzt zum Alltag. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

In der Türkei geht die Angst um. Es ist jene Art von Angst, die Menschen kennen, die schon einmal in einer Diktatur gelebt haben oder durch widrige Umstände gezwungen waren, sich vorübergehend in einem rechtsfreien Land aufhalten zu müssen. Es sind immer die gleichen Fragen, die sich verängstigte Bürger stellen, ob im Deutschland Hitlers, in Francos Spanien, in Ulbrichts DDR der frühen 50er Jahre: Wer wird als Nächster verhaftet? Welcher Nachbar könnte mich denunzieren? Wann verliere ich meinen Arbeitsplatz, weil ich nicht laut genug dem Führer zugejubelt, nicht ekstatisch genug bei seiner Rede applaudiert habe? Kann ich mein Leben und das meiner Familie noch retten, und sei es durch Flucht oder Auswanderung?

Recep Tayyip Erdogan hat einen Putsch niederschlagen lassen können. Wie ernst zu nehmen der war, wie früh der Präsident davon wusste, wer wirklich dahintersteckte, wissen wir nicht. Aber wir wissen dies: Danach benutzte der starke Mann der Türkei, der – wohlgemerkt – durch demokratische Wahlen gestärkt worden war, mit großer Brutalität die ihm gegebenen Machtmittel, um die Opposition und alles, was er dafür hält, zu zerschlagen.

Und wir, Deutschland, die Europäische Union, die USA, all jene, die man gemeinhin unter dem Wertebegriff „der Westen“ zusammenfasst, stehen nun vor der Frage, wie man mit einem Bündnispartner umgeht, der die gemeinsame Basis offensichtlich ganz bewusst verlassen hat.

Erdogan verschiebt die weltpolitischen Koordinaten für sein Land

Auf den ersten Blick ist die Antwort klar. Alles zuzutrauen ist einem staatlichen Machtsystem, das innerhalb weniger Tage 50.000 Soldaten, Richter, Lehrer, Beamte festgenommen oder suspendiert hat, das Radio- und Fernsehstationen schließen ließ, und dessen oberster Repräsentant die Todesstrafe auch deshalb wieder einführen möchte, weil man dann die Verurteilten nicht ihr restliches Leben lang hinter Gittern durchfüttern muss. Einem solchen politischen System auch nur weitere Gespräche über eine Annäherung an die Europäische Union anzubieten, spräche allen unseren Überzeugungen Hohn.

Auch die Nato – deren Mitglied die Türkei seit 1952 ist – wird ja nicht nur von gut ausgebildeten und ausgerüsteten Armeen getragen, sondern basiert auf einem gemeinsamen Wertesystem demokratischer Grund- und Menschenrechte. Was davon existiert noch in der Türkei? Und was wird aus dem Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei?

Kann man Asylsuchende dorthin zurückschicken, wo grundlegende Freiheiten unterdrückt werden?

Der Westen muss Partner für die bleiben, die auf Freiheit und Rechtsstaat hoffen

Wer Erdogans Türkei nun, als logischer Schluss, mit einer Kontaktsperre belegt, bestraft aber auch die vielen, die mitten in dieser Diktatur auf bessere Zeiten, weiter auf ein Leben in Freiheit und Rechtsstaatlichkeit hoffen. Wir, der Westen, sind die einzig möglichen Gesprächspartner, und wir dürfen einen immer noch möglichen Prozess der Öffnung nicht von uns aus stoppen.

Das Unrecht zu benennen ist genauso wichtig wie die anhaltende Bereitschaft zum Dialog mit den Menschen, die der Gewaltherrschaft unterworfen sind. Institutionen wie die Goethe-Institute, die großen Stiftungen, ja, auch die stille Diplomatie, können da weiterarbeiten, wo der offiziellen Politik um unverzichtbarer Prinzipien willen die Hände gebunden sind.

Dass wir einfach gehen, kapitulieren, das wünscht sich vielleicht Erdogan. Aber den Gefallen sollten wir ihm nicht tun.

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