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Professor Gert G. Wagner arbeitet als Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler und ist Mitglied der Rentenkommission der Bundesregierung
© Florian Schuh/DIW

Experte der Rentenkommission: "Die Altersgrenze sollte ab 2031 weiter steigen"

Der Ökonom Gert G. Wagner hält eine weitere Anhebung des Rentenalters für die "entscheidende Stellschraube" zur Finanzierung der Renten. Ein Interview.

Professor Gert G. Wagner arbeitet als Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler in Berlin und ist Vorsitzender des Sozialbeirats der Bundesregierung. Er ist zugleich Mitglied der Rentenkommission der Bundesregierung.

Die Rentenkommission hat in den letzten beiden Jahren Vorschläge für die Zukunft der Rente erarbeitet. Wie kann unser System langfristig finanziert werden?
Wir brauchen weiterhin eine ausgewogene Mischung aus Beiträgen und Steuern, um die Rente finanzieren zu können. Wie viel Geld wir aufbringen müssen, hängt auch davon ab, welches Rentenniveau in Zukunft garantiert wird und bis zu welchem Alter wir regulär arbeiten. Wir schlagen als Rentenkommission nun keine neue Rentenformel vor, die immer und ewig gilt. Unsere Idee ist, dass die entscheidenden Größen des  Rentensystems immer nur für sieben beziehungsweise 15 Jahre festgelegt werden.

Warum?
In einer dynamischen Welt gibt es keine absolute Sicherheit. In diesen Tagen erleben wir, wie sich alles plötzlich ändern kann. Unser Umlagesystem ist flexibel und leistungsfähig, wir können es immer wieder anpassen. Das geschieht bei kapitalgedeckten Renten automatisch, aber keineswegs formelhaft, sondern hängt vom schwankenden Wert des angesparten Kapitals und dessen Verzinsung ab. Wenn man gerade jetzt in Rente geht und sich darauf gefreut hat, dass man etwa von seinem Aktienpaket gut leben kann, hat man ein Problem. Als Rentner leben wir ja nicht in der langen, sondern in der kurzen Frist. Und eine Erholungsphase der Kapitalmärkte kann auch mal länger dauern.

In den nächsten Jahren gehen die Babyboomer in Rente: Zwischen 2020 und 2035 steigt die Anzahl der Rentnerinnen und Rentner und sinkt die Anzahl der Erwerbstätigen stark. Das heißt, weniger junge Menschen müssen mehr Ältere finanzieren. Was sind die Folgen?
Es gibt nur eine begrenzte Zahl von Stellschrauben: Die Beiträge können steigen, der Steuerzuschuss kann steigen, die Renten können langsamer angehoben werden als in den letzten Jahren oder die Altersgrenze wird nach 2030 weiter erhöht. Ich persönlich halte die Altersgrenze für die entscheidende Stellschraube zur Finanzierung der Renten. Ab 2031, also dann, wenn die Rente mit 67 voll greift, sollte die Altersgrenze weiter steigen.

Schon die Einführung der Rente mit 67 Jahre hat zu erheblichen Protesten geführt…
Es ist in Deutschland extrem unpopulär, eine Anhebung der Altersgrenze zu fordern. Nicht nur die Gewerkschaften wollen das Thema nicht anfassen, auch viele Arbeitgeber nicht. Und in der Politik ist die Begeisterung nicht nur bei der SPD und den Linken nicht besonders ausgeprägt. Dabei geht es doch gar nicht darum, dass Rentner kürzer ihre Rente beziehen sollen. Die Lebenserwartung steigt. Wir müssen darüber diskutieren, wie man diese gewonnene Zeit aufteilt in ein längeres Arbeitsleben und eine längere Rentenbezugszeit, wie mein Kollege Ralph Hertwig das  vor ziemlich genau einem Jahr im Tagesspiegel dargelegt hat.

Die Rentenkommission hat sich an dieser Stelle zu keiner Empfehlung durchringen können.
Das Rentenalter wurde in der Kommission, durchaus zu Recht, sehr kontrovers diskutiert. Deswegen schlagen wir vor, dass ein neu zu schaffender Alterssicherungsbeirat im Jahr 2026 einen Vorschlag für die Entwicklung der Altersgrenze macht. Damit ist das Thema auf der politischen Agenda. Ich behaupte: Niemand wird das wieder runterbringen. Und von 2026 bis 2031, wenn ein weiterer Anstieg beginnen könnte, ist noch genug Zeit, um sich vorzubereiten, sowohl für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber.

Aber es gibt viele Berufe, in denen es schon heute nur schwer möglich ist, bis zum Alter von 67 Jahren zu arbeiten?
Ja, gesundheitlich belastende Berufe sind auch mit einer kürzeren Lebenserwartung verbunden. Das thematisieren wir ausdrücklich. Deswegen ist  nicht nur die Rentenversicherung gefordert, mehr für gesundheitliche Prävention und Rehabilitation zu tun. Bei der Prüfung der Altersgrenze 2026 soll all das ausdrücklich berücksichtigt werden. Nach meiner persönlichen Meinung sollte das dann darauf hinauslaufen, dass bei einer weiter steigenden Altersgrenze der Zugang zu Erwerbminderungsrenten jenseits des 60. Lebensjahres erleichtert wird.

Die Bundesregierung hat bis 2025 eine so genannte doppelte Haltelinie festgelegt, die dafür sorgt, dass das Rentenniveau nicht immer weiter sinkt und dass gleichzeitig der Anstieg der Beiträge gedeckelt wird. Sollte es auch über 2025 hinaus solche Haltelinien geben?
Ja. So wollen wir das Vertrauen in die Rentenversicherung stärken. Nach unserer Vorstellung sollte die Politik diese Haltelinien alle sieben Jahre neu bestimmen. Die große Mehrheit der Kommission schlägt auch konkrete Korridore vor: Die Untergrenze für das Rentenniveau sollte zwischen 44 und 49 Prozent liegen, die Obergrenze für den Rentenbeitrag zwischen 20 und 24 Prozent. Wir wollen darüber hinaus aber noch zwei weitere Indikatoren, die bedacht werden müssen, ins Gesetz schreiben: die Gesamtbelastung mit Sozialversicherungsbeiträgen, sowie den Abstand zwischen dem so genannten Eckrentner und der Grundsicherung.

Was wäre die Folge?
Ob die Belastung der Arbeitnehmer vertretbar ist, hängt nicht nur von der Höhe des Rentenbeitrags ab, sondern zum Beispiel auch von den Beiträgen für die Kranken- oder Arbeitslosenversicherung. Und der zweite Indikator sorgt implizit dafür, dass Altersarmut in den Blick genommen wird. Wir sollten schauen, wie weit der „Eckrentner“, eine Art fiktiver Durchschnittsrentner, mit seiner Rente über der Grundsicherung liegt. Wenn der Abstand zu klein wird, ist das ein Indiz dafür, dass das Rentenniveau angehoben oder zumindest nicht so stark abgeschmolzen werden sollte.

Was kann die Politik darüber hinaus gegen Altersarmut tun?
Auch wenn das nicht unser Arbeitsauftrag war, haben wir darüber diskutiert: So unterstützen alle in der Kommission das Vorhaben der Bundesregierung, Selbstständige zur Altersvorsorge zu verpflichten. Ich persönlich finde auch den Vorschlag der Sozialpolitiker aus der Unions-Bundestagsfraktion für einen „Renten-Euro“ vernünftig: Danach sollen Arbeitgeber für Mitarbeiter, die nur den Mindestlohn erhalten, einen höheren Rentenbeitrag zahlen. Wenn sie  pro Stunde einen Euro mehr Beitrag zahlen als gemäß dem Beitragssatz, würde das dazu führen, dass jemand nach 45 Arbeitsjahren nicht mehr auf Grundsicherung angewiesen wäre.

Die Kommission diskutiert außerdem, Beamte in die gesetzliche Rentenversicherung einzubeziehen. Was bringt das?
Das ist vor allem eine Frage der Gerechtigkeit. Ich persönlich bin sehr dafür, Beamte aufzunehmen, damit die vielen Stammtischdiskussionen aufhören und Ruhe im Karton ist. Aber das wird nicht dazu führen, dass die Rentenversicherung finanziell besser dasteht, weil auf Dauer auch die Ausgaben steigen werden.

Außerdem schlägt die Kommission vor, die private und betriebliche Vorsorge attraktiver zu machen. Wird das ausreichen, damit mehr Menschen zusätzlich zu ihrer Rente etwas sparen?
Ich habe da meine Zweifel. Ich glaube, auf Dauer werden wir um eine Art Vorsorgepflicht nicht herumkommen. Als Kommission empfehlen wir deswegen, dass die Politik im Jahr 2025 die Einführung einer „Opt-Out-Regelung“ prüfen soll: Das würde bedeuten, dass jeder von seinem Arbeitgeber eine private Vorsorge vorgeschlagen bekommt. Die Erfahrung zeigt, dass viele ein solches Angebot nicht ablehnen, zumal wenn der Arbeitgeber einen Zuschuss zahlt.

Nicht nur die Anhebung des Rentenalters war in der Kommission umstritten. Im Bericht gibt es mehrere Minderheitsvoten, so hat zum Beispiel Ihr Wissenschaftler-Kollege Axel Börsch-Supan seine abweichende Meinung an mehreren Stellen deutlich gemacht. Entwertet das die Arbeit der Kommission?
Wir hätten es fast geschafft, ohne Sondervoten auszukommen. Ich finde es keine Katastrophe, dass es nun anders gekommen ist.  Wenn ich als Wissenschaftler in so eine Kommission berufen werde, verlasse ich diese Rolle doch in dem Moment, wo ich der Politik konkrete Empfehlungen geben soll. Ich finde es nicht erstaunlich und richtig, dass Wissenschaftler als Staatsbürger unterschiedliche Wertvorstellungen haben. Die müssen sie auch offenlegen. . Deswegen wäre es auch wichtig, dass das Gewicht der Wissenschaft im neu zu schaffenden Alterssicherungsbeirat größer sein wird als das gegenwärtig im Sozialbeirat der Fall ist. Beiräte sollen ja keine Politik machen, sondern die Politik mit Empfehlungen herausfordern. Das können Wissenschaftler besonders gut.

Rechnen Sie damit, dass die Bundesregierung die Vorschläge noch in dieser Wahlperiode umsetzen wird?

Ohne Corona hätte ich das für möglich gehalten, mit Corona bin ich mir nicht sicher. Ich würde mir wünschen, dass die Politik den Fahrplan, den wir vorgeschlagen haben, gesetzlich implementiert. Im Moment arbeitet die große Koalition ja sehr gut zusammen. Es ist eine positive Nebenwirkung der Krise, dass die Koalition politische Kraft aufbringt.

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