Wider die Mär vom Rechtsruck: Die AfD mobilisiert bestehendes Potenzial
Diagnose für die AfD-Erfolge? Das Land rückt nach rechts. Nein. Die politischen Einstellungen sind konstant. Erst seit der AfD wird aufgemerkt. Ein Gastbeitrag.
Floris Biskamp ist Soziologe, Politikwissenschaftler und derzeit Koordinator des Promotionskollegs rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Universität Tübingen
Der Aufstieg der AfD hat in der deutschen Öffentlichkeit verständlicherweise eine gewisse Alarmstimmung ausgelöst. In dieser Stimmung wird immer wieder behauptet, den unerwarteten Erfolgen der radikalen Rechten liege ein gesamtgesellschaftlicher Rechtsruck zugrunde. Jedoch gibt es keine ernsthafte empirische Grundlage, auf der man von einer solchen plötzlichen Verschiebung nach rechts sprechen könnte.
Gäbe es diesen Ruck, müsste er daran zu erkennen sein, dass völkischer Nationalismus, die Abwertung von Minderheiten sowie eine positive Bezugnahme auf Tradition und Autorität zunehmend gesellschaftliche Akzeptanz finden. Das lässt sich aber in Deutschland bislang nicht beobachten.
Die Zahlen sind beunruhigend, aber konstant
Zunächst könnte man einen Rechtsruck auf der Einstellungsebene vermuten: Je rechter die Gesellschaft, desto mehr Menschen sollten rechte Einstellungen vertreten. Dank groß angelegter Forschungsprojekte aus Bielefeld und Leipzig existieren für die Jahre seit der Jahrtausendwende gut vergleichbare Daten zur Verbreitung gruppenbezogen menschenfeindlicher und autoritärer Einstellungen – also derjenigen Haltungen, die einem radikal rechten Programm entsprechen.
Diese Studien zeigen, dass solche Einstellungen bei einer relevanten Minderheit fest etabliert sind – ganz grob gesprochen weisen über die Jahre ca. fünf Prozent ein geschlossen rechtsextremes Weltbild auf, ca. 20 Prozent haben deutliche Affinitäten zu radikal rechten Positionen, und bei wenigstens der Hälfte der Bevölkerung finden sich zumindest Fragmente solcher Einstellungen. Die AfD wiederum findet gerade unter denjenigen mit autoritären und menschenfeindlichen Positionen die größte Zustimmung.
Dieses rechtsradikale Potenzial ist beunruhigend, aber die Zahlen sind seit der Jahrtausendwende relativ konstant und teilweise sogar rückläufig. Ältere Daten sind nur bedingt vergleichbar, bieten aber keinen Anlass zu dem Glauben, dass rechte Einstellungen vor der Jahrtausendwende weniger weit verbreitet gewesen wären als heute.
Rechtsruck fand auf Ebene des öffentlichen Diskurses statt
Demzufolge gab es in der Bundesrepublik wohl immer ein Potenzial für eine im zweistelligen Bereich erfolgreiche rechtsradikale Partei. Der Aufstieg der AfD ist nicht dadurch zu erklären, dass sich die Einstellungen in der Bevölkerung ruckartig nach rechts bewegt hätten. Vielmehr mobilisiert die Partei ein bestehendes Potenzial.
Man könnte auch vermuten, dass der Rechtsruck eher auf der Ebene des öffentlichen Diskurses stattgefunden habe: Demnach hätten die Menschen früher zwar nicht weniger rechts gedacht als heute, sie hätten es aber nicht öffentlich geäußert. So wird seit einigen Jahren behauptet, die „Grenzen des Sagbaren“ würden immer weiter nach rechts verschoben. Doch ist auch diese Behauptung kaum belegbar.
Auch Kohl und Strauß äußerten sich skandalös
Für fast jede skandalöse Äußerung aus der AfD findet man in sämtlichen Jahrzehnten der Nachkriegsgeschichte eine Entsprechung – nur dass die Äußerungen damals aus Parteien der „Mitte“ kamen und nicht in allen Fällen so skandalisiert wurden wie heute. Die gleichen Relativierungen des Nationalsozialismus, den gleichen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Heterosexismus wie heute bei der AfD findet man bei Unionspolitikern wie Helmut Kohl, Alfred Dregger, Martin Hohmann und Franz-Josef Strauß.
Entgegen der These von der ständigen Erweiterung des Sagbaren ist zu konstatieren, dass insbesondere die alltäglichen Formen von Rassismus und Sexismus heute viel eher öffentlich problematisiert werden können, als es noch in den 1990ern der Fall war. Das ist aus der Perspektive einer demokratischen Kultur zu begrüßen, weil es dazu führt, dass Menschenfeindlichkeit nicht mehr so unwidersprochen geäußert werden kann wie in vergangenen Jahrzehnten.
Die Asylpolitik reagierte auf Fehlentwicklungen
Schließlich könnte man den Rechtsruck noch auf einer dritten Ebene suchen, nämlich in der staatlichen Politik. Dann sollte er sich insbesondere auf dem Themenfeld der radikalen Rechten finden lassen, nämlich der Migrationspolitik. Tatsächlich kennt die Asylgesetzgebung seit den 1990ern vor allem eine Richtung, nämlich die Einschränkung: Vom „Asylkompromiss“ 1993 bis zu den diversen „Asylpaketen“ der letzten Jahre zielten die meisten Reformen darauf ab, den Zugang zum Rechtsanspruch auf Asyl oder Flüchtlingsstatus einzugrenzen.
Der Deutung dieser Politik als Rechtsruck steht zweierlei entgegen. Erstens sind die zunehmenden rechtlichen Restriktionen vor allem eine Reaktion darauf, dass die Möglichkeiten, überhaupt nach Deutschland zu kommen und Asyl zu beantragen, seit den 1970ern deutlich gewachsen sind. Zweitens steht der Verschärfung des Asylrechts eine Institutionalisierung von Integrationspolitik gegenüber. Das war im 20. Jahrhundert weder in der DDR noch in der BRD der Fall.
Will man die politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte kategorisieren, so handelt es sich eher um einen ambivalenten Liberalisierungsprozess als um eine Verschiebung oder gar einen Ruck nach rechts. Es wird nicht alles immer besser, aber es wird auch nicht immer rechter. Dass die AfD auch ohne einen allgemeinen gesellschaftlichen Rechtsruck in kurzer Zeit so erfolgreich werden konnte, liegt erstens daran, dass die Volksparteien an Bindungskraft eingebüßt haben.
2015 kam ein Thema hoch, das rechts zieht
Gerade weil diese Parteien wie die Mehrheit der Gesellschaft in die liberale Mitte gewandert sind, wo gängigen Auffassungen zufolge Wahlen gewonnen werden, haben sie einige Milieus zurückgelassen. In diesen Milieus mobilisiert die AfD besonders erfolgreich. Zweitens wurde mit der Migrations- und Flüchtlingspolitik 2015 das Thema politisch dominant, das die Mobilisierung rechtsradikaler Parteien am meisten begünstigt. So konnte es auch ohne einen allgemeinen Rechtsruck in der Gesellschaft zu einem klaren Rechtsruck in der parlamentarischen Repräsentation kommen.
Wohlgemerkt: Die radikale und extreme Rechte war, ist und bleibt eine reale Gefahr – zuerst für Leib und Leben derer, die sie als ihre Feinde betrachtet, aber auch für die demokratische Gesellschaft. Allerdings beruht diese Gefahr bis jetzt nicht darauf, dass eine gesellschaftliche Mehrheit sich den Positionen der radikalen Rechten immer weiter annähern würde. Im Gegenteil zeigen Umfragen immer wieder, dass die AfD zwar bei einer Minderheit Erfolge feiert, bei der großen Mehrheit derer, die sie nicht wählen, aber die unbeliebteste aller Parteien ist.
Der "Rechtsruck" ist AfD-Sprech
Die Gefahr für die Demokratie besteht gegenwärtig vor allem darin, dass andere Parteien rechtspopulistische Rhetorik und Politik kopieren und normalisieren – sei es, um die AfD wählende Minderheit zu umgarnen, sei es, um gemeinsam mit der AfD koalitions- und mehrheitsfähig zu werden. Diese politische Irrlichterei könnte eine reale Rechtsverschiebung begünstigen.
Bis jetzt gibt es aber mindestens drei gute Gründe, die ständige Rede vom Rechtsruck zu unterlassen. Erstens existieren kaum Anhaltspunkte für seine Existenz. Zweitens geht mit der Rede vom Rechtsruck eine Verklärung der Vergangenheit einher – und gerade in Hinblick auf Rassismus, Sexismus, Heterosexismus und Antisemitismus sollten weder die alte BRD noch die DDR noch die mörderischen 1990er und ihre #baseballschlägerjahre noch die 2000er mit ihren von der Mehrheitsgesellschaft rassistisch fehlgedeuteten NSU-Morden verharmlost werden.
Drittens schließlich stärkt man durch die Rede vom Rechtsruck ein zentrales Narrativ der AfD: Diese behauptet immer wieder, ihre Erfolge seien Ausdruck einer „Wende 2.0“. Damit spricht sie sich selbst eine größere gesellschaftliche Bedeutung und Unterstützung zu, als tatsächlich besteht. Die Rede vom gesellschaftlichen Rechtsruck unterstützt sie dabei.
Floris Biskamp