Ein Jahr AfD im Bundestag: Deutschland braucht eine emotionale Versöhnung
Nach einem Jahr AfD im Bundestag hat die Polarisierung der Gesellschaft zugenommen. Das liegt nicht nur an der AfD. Ein Kommentar.
Die Szene markierte einen Tiefpunkt: Als während der Generaldebatte im Bundestag vor gut einem Monat Johannes Kahrs von der SPD das Wort hatte, schleuderte er der AfD entgegen: „Hass macht hässlich.“ Die AfD-Fraktion verließ geschlossen den Saal.
Es war ein weiteres Beispiel dafür, wie die Auseinandersetzung gewiss nicht funktionieren kann, aber doch immer wieder abläuft. Vor knapp einem Jahr hat die AfD bei der konstituierenden Sitzung zum ersten Mal im Bundestag Platz genommen. Die Debatte ist seitdem lebhafter geworden, aber eben auch feindseliger. Und das verändert unsere Gesellschaft.
Vor einem Jahr hatten Optimisten die Hoffnung, der Einzug der AfD ins Parlament könnte etwas Zerbrochenes kitten. Dass sich nämlich enttäuschte Protestwähler im Bundestag wieder vertreten fühlen. Doch das Gegenteil ist womöglich der Fall: Die politische Polarisierung in Deutschland, die Verrohung des Diskurses, die emotionale Spaltung – all das hat sogar zugenommen. Der Graben ist tiefer geworden.
Verbalradikalismus unter der Reichstagskuppel
Das liegt an der AfD – aber eben nicht nur an ihr. Die AfD hat in den vergangenen zwölf Monaten eine neue Stufe des Verbalradikalismus erklommen mit zum Teil menschenverachtender Rhetorik. Da ist der AfD-Innenpolitiker Gottfried Curio, der mit schneidender Kälte verlauten ließ: „Masseneinwanderung heißt Messereinwanderung“. Oder Fraktionschefin Alice Weidel, die von „Kopftuchmädchen, alimentierten Messermännern und sonstigen Taugenichtsen“ sprach. Im Internet entfalteten solche Worte ihre volle Wucht. Hier erreichen die Redenmitschnitte ein Millionenpublikum.
Doch auch die anderen Parteien haben verbal aufgerüstet. Das zeigt sich an der Rede von Ex-SPD-Chef Martin Schulz, der zu Recht kritisiert wurde, als er sich der AfD-Rhetorik bediente und erklärte, Parteichef Alexander Gauland gehöre auf den „Misthaufen der Geschichte“. Auch diese Rede wurde im Netz hunderttausendfach angesehen.
Der öffentliche Diskurs wird immer schriller und unversöhnlicher. In den sozialen Netzwerken wird mit einer Empathielosigkeit aufeinander eingehackt, die einen frösteln lässt. Und im Privaten hat die Bereitschaft, mit politisch anders Gesinnten zu diskutieren, drastisch abgenommen.
Die Konfliktlinie verläuft nicht mehr zwischen Abschottung und Willkommenskultur. Längst gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass die EU-Außengrenzen geschützt werden müssen, um illegale Migration zu verhindern. Die Konfliktlinie verläuft zwischen Globalisierungsbefürwortern und -skeptikern, zwischen denen, die eine liberale Gesellschaft wollen und jenen, die sich einen autoritären Staat wünschen. An den entgegengesetzten Polen stehen Grüne und AfD. #unteilbar gegen #merkelmussweg.
Wie schüttet man die Gräben wieder zu?
Vor allem im Osten haben viele Menschen nach den Ereignissen in Chemnitz verstärkt das Gefühl, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Dabei ist das, was unsere Gesellschaft bräuchte, emotionale Versöhnung.
Nur: Wie schüttet man die Gräben wieder zu? Wer sich an der Basis unter AfD-Mitgliedern umhört, hat nicht selten das Gefühl in einer anderen Welt zu sein, in der das Ende Deutschlands kurz bevor steht und in der Presse und Rundfunk kaum noch durchdringen.
Dennoch spricht viel dafür, dass der Plan, den die Regierung unter dem Motto „zur Arbeitsebene zurückkehren“ verfolgt, gar nicht so falsch ist. Er müsste aber umgesetzt werden. Bürger wollen gesehen werden, sie wollen, dass man ihre Probleme ernst nimmt. Das darf man aber nicht nur auf die Überfremdungssorgen von AfD-Wählern beziehen, sondern auch auf die Befindlichkeit aller anderen. Die können nichts damit anfangen, dass seit Monaten nur über ein Thema diskutiert wird. Es braucht endlich einen tragfähigen Migrationskonsens innerhalb der großen Koalition, den ein Großteil der Wähler in der Mitte der Gesellschaft akzeptieren kann. Diese Lösung muss überzeugend kommuniziert werden. Und dann könnte sich diese Republik tatsächlich wieder anderen Dingen zuwenden.