Sondierungen: Die 24 Stunden bis zur Koalitions-Entscheidung
Martin Schulz spricht von „turbulenten“ Gesprächen. Angela Merkel nennt sie „intensiv“, Horst Seehofer „etwas emotionaler“. Der Weg ist geebnet – zu Ende gegangen ist er noch nicht.
Meine Güte, sind die fertig! Horst Seehofer versucht zwar rasch noch nach irgendwo da hinten in Richtung des silbern glänzenden Willy Brandt zu zwinkern, aber gleich danach rutscht ihm die Müdigkeit ins Gesicht. Angela Merkel fallen fast die Augen zu. Und Martin Schulz müht sich um halbwegs grade Sätze mit viel „Zusammenhalt“ und „Erneuerung“. Der entscheidende Satz muss aber um viele Ecken bis zum Ziel: Das SPD-Sondierungsteam, sagt der Parteivorsitzende, habe „einstimmig beschlossen, dem Parteivorstand vorzuschlagen, dem Parteitag zu empfehlen, zu beschließen, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen“.
Geschafft – die Nacht, den Satz, aber vor allem das, was er besagt. Nach über 24 Stunden pausenloser Verhandlungen in der SPD-Parteizentrale ist der Weg zur dritten großen Koalition unter einer Kanzlerin Merkel vorgezeichnet.
Bei Licht betrachtet ging das übrigens sogar recht schnell. Es fühlt sich nur nicht so an, weil seit der Bundestagswahl bis zu diesem Freitag 109 Tage vergangen sind, davon 57 relativ aufregende bis zum abrupten Ende der Jamaika-Verhandlungen und dann weitere zwei Wochen, bis Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die widerstrebende SPD überhaupt nur zur Kontaktaufnahme mit den alten, neuen Partnern gezerrt hatte.
Aber nach der Weihnachtspause hat es tatsächlich netto nur sechs Verhandlungstage gedauert, bis in diesen Morgenstunden das Papier fertig ist, das den Kurs der künftigen Regierung festlegen soll. Es umfasst 28 Seiten und fällt so umfassend und detailliert aus, dass Merkels Prognose rätselhaft bleibt, die eigentlichen Koalitionsverhandlungen würden bestimmt noch mal genau so hart. Doch vielleicht muss man nach dieser langen Nacht selbst bei einer konferenzerprobten Kanzlerin nicht mehr jeden Satz bei jedem Wort nehmen. Der Waffenstillstand von Minsk für die Ukraine, nur zum Vergleich, war in 17 Stunden perfekt.
Ja, was für eine Nacht! Schon als sie noch jung war, kam vier handfeste Jungs vom SPD-Ortsverein Kreuzberg das Mitleid an. Das Quartett sah im Fernsehen die Szenerie vor dem Haupteingang zum Willy- Brandt-Haus. Dick eingemummelte Gestalten sahen sie dort von einem Fuß auf den anderen treten, ein Bündel Mikrofone auf einem Ständer vor einer Kamerabatterie konnten sie erkennen für den Fall, dass einer etwas sagen wollte, Fernsehkommentatoren, die das Kunststück vollbringen mussten, im Stundentakt etwas zu sagen, ohne etwas zu wissen.
Die Kreuzberger Genossen fanden, da sei Solidarität gefragt. Kurz vor elf schleppen sie aus dem Kreisbüro um die Ecke ein rundes Tischchen heran, Tassen und Becher, Salzstangen und die Reste vom Weihnachtsgebäck und vor allem zwei große Thermoskannen Kaffee. Außerdem, wo sie grade schon da rumstehen, bringen sie ihre Basismeinung an den Mann und die Frau. Die Basismeinung sagt: Große Koalition – nee. Nicht wieder. 2013 war das im Ortsverband schon schwierig, sagt einer, aber kein Vergleich zur Ablehnung jetzt. Daumen runter.
Vorne im Bug des schiffsartigen Baus, wo Schulz sein Büro hat und wo normalerweise das Präsidium tagt, ist das der Sechserbande völlig klar. Die drei Parteichefs plus ihre Fraktionsführer – Volker Kauder, Andrea Nahles und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt – stehen im Mittelpunkt der Sondierung. Die übrigen 33 sitzen am Rand und in Bereitschaft für den Fall, dass die da drinnen mal kurz ihre Fachkenntnis brauchen. Von ausgewachsenen Bundesministern und Länderchefs verlangt das ungewohnte Geduld, aber was hilft’s.
Wenigstens können sie zwischendurch mal kurz raus. Innenminister Thomas de Maizière dreht mit Sigmar Gabriels Staatssekretär Rainer Sontowski eine Runde durch die Nachtluft, nachdem der Skat mit dem Hessen Volker Bouffier und dem SPD-Mann Ralf Stegner gekloppt ist. Der NRW-SPD-Chef Michael Groschek frotzelt, dass er den Hund ausführen gehe.
Das Schweigegelübde hält bis kurz vor Schluss
Wie’s da drin läuft? Parteiübergreifendes Abwinken. Das Schweigegelübde, eine Lehre aus der Jamaika-Geschwätzigkeit, hält bis kurz vor Schluss.
Hinterher sagt Schulz, dass es zeitweise „turbulente“ Gespräche waren. Merkel nennt sie „intensiv“, Seehofer „etwas emotionaler“. Hinter den Worten stecken aufreibende Stunden, auch wenn Schulz versichert: „Auf der Kippe standen sie nicht.“ Jeder von den Dreien wusste: Noch ein Fehlschlag nach Jamaika, dann sind wir alle miteinander weg. Selbst Vertagen kam nicht in Frage. Das Gerücht, ein Aufschub werde doch erwogen, war genau das – ein Gerücht.
Aber „die ganze Zeit kippelig“, sagt ein SPD-Unterhändler, sei es eben doch gewesen, weil sich bei wichtigen Punkten stundenlang nichts bewegte. Der schwierigste Punkt war aus SPD-Sicht beim Thema Steuern erreicht. Die Sozialdemokraten wollten einen höheren Spitzensteuersatz und mit dem zusätzlichen Geld niedrigere Einkommen entlasten. „Da blieb die Union aber eisenhart“, schimpft der Mann. Vom Kapitel „Entlastung der Bürger“ bleibt zuletzt nur ein Soli-Abbau, der etwa 90 Prozent der Steuerzahler von dem Zuschlag befreien soll.
Ansonsten wird aus der SPD gelästert, Merkel und Seehofer hätten nicht in jedem Fall die Prokura gehabt, ihre Vorstellungen im eigenen Lager durchzusetzen. Unionsleute revanchieren sich mit der Flüsterparole, es sei fast so zugegangen wie mit den Jamaika-Grünen, weil Schulz für jede Zusage erst die Erlaubnis der eigenen Truppen habe einholen müssen.
Dafür erzählen dann wiederum Sozialdemokraten, die anderen hätten zu mogeln versucht. Das zog zuletzt noch eine Verzögerung nach sich, weil die SPD-Sondierer bei Lektüre des Gesamtpapiers Sätze fanden, die da nicht rein gehörten. Dass Flüchtlinge in Erstaufnahmezentren einquartiert werden, hatte die SPD-Fachgruppe zum Beispiel abgenickt; „Residenzpflicht“ und „Sachleistungsprinzip“ nicht.
Dass er dem CSU-General Andreas Scheuer aber nur zufällig da rein gerutscht war, sozusagen eine Panne, als das Abschlusspapier auf einem einzigen Computer zusammengefügt wurde, glauben sie in der SPD nicht. Der eine Computer sollte sicherstellen, dass das Papier nicht vorzeitig Flügel nach draußen kriegt. Wer etwas als erster verbreitet, kann ihm seinen Dreh mitgeben.
Aber diese Vorsicht jedenfalls war wohl übertrieben. Von den dreien, die am Vormittag auf dem Podium stehen, legen zwei auffällig geringen Wert auf Heldenposen. Bei Merkel, der gewohnheitsmäßig Unterkühlten, fällt das kaum auf. Ein „Vertrag des Gebens und des Nehmens“ sei es geworden, „nicht nur so’n oberflächliches Papier“, worüber sie 24 Stunden zuvor keineswegs sicher gewesen sei, dass es gelingt. Aber jeder sei über Schatten gesprungen.
Hätte Merkel nicht eher beiläufig den eigenen Wahlslogan untergebracht – man wolle, dass sich auch in 15 Jahren noch „gut und gern in Deutschland leben“ lasse –, hätte man sie vollends für die Frau Notarin halten können.
Aber auch Seehofer beschränkt das bajuwarische Muskelspiel auf ein „außerordentlich zufrieden“. Die FDP kriegt kurz einen mit: „Wir haben gezeigt, dass Politik Sondierung kann.“ Doch auf die Nachfrage, wo denn nun der versprochene Aufbruch stecke, gibt der CSU-Chef erst mal unumwunden zu, dass die Union „leider“ im Wahlkampf die Brisanz sozialer Fragen unterschätzt habe – um dann von Grundrente bis kostenloser Kinderbetreuung auch für Grundschüler lauter Themen anzuführen, auf die die SPD in diesem Wahlkampf das Copyright hatte.
Den Rest der Strecke muss die SPD nun alleine bewältigen
Die Zurückhaltung ist nicht nur galanter Dank für die Aufmerksamkeit, das Podium nicht wie üblich neben der Willy- Statue aufzubauen, sondern der SPD-Ikone gegenüber. Nein, Merkel und Seehofer wissen: Der Weg ist geebnet – zu Ende ist er noch nicht.
Den Rest der Strecke muss jetzt aber der Dritte alleine bewältigen, um all die Ecken herum, die sein Satz beschrieben hat. Am Nachmittag erläutert Nahles schon der Fraktion das Ergebnis, während der SPD-Vorstand unter Leitung von Schulz immer noch debattiert. Skepsis schlägt dem Vorsitzenden entgegen. Große symbolische Siege fehlen. Vor vier Jahren war es der Mindestlohn. „Jetzt gibt es nicht die eine Trophäe, mit der wir auf den Parteitag gehen können“, gibt ein SPD-Unterhändler zu. Problematischer noch – vieles fehlt, das als Symbol taugte. Keine zusätzliche Steuerentlastung für Facharbeiter, kein Einstieg in die Bürgerversicherung, und beim Recht auf befristete Teilzeit, das längst in der letzten Koalition verabschiedet sein sollte, hat die Union Bedingungen diktiert.
Natürlich steht vieles auch auf der Habenseite; ein sofort aufgesetzter Mitgliederbrief zählt eine lange Liste auf vom praktischen Ende des Kooperationsverbots in der Bildung bis zum Versprechen, die Kommunen noch einmal mit zehn Milliarden Euro zu unterstützen. Das ist eine Verlockung für die vielen Gemeinde- und Kreispolitiker aus NRW, die in einer Woche beim SPD-Parteitag in Bonn ihre Abscheu vor der nächsten Koalition mit Merkel überwinden müssen. Dass die Kanzlerin sich drei Mal im Jahr im Bundestag Fragen stellen soll, reicht dafür ja nicht.
In der Parteiführung hofft jetzt mancher auf den „Reusen-Effekt“: Wer ein Stück reingeschwommen sei, sei gefangen, sagt ein SPD-Mann mit Blick auf GroKo-Kritikerinnen wie Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz. Doch ein Erfahrener aus der SPD-Spitze bleibt dabei: „Es wird schwer.“ Im Vorstand gibt es sechs Gegenstimmen. Nicht viel bei 45 Mitgliedern, und keiner der Großen dabei. Aber Parteivize Thorsten Schäfer-Gümbel, Spitzenkandidat in Hessen bei der Landtagswahl in diesem Jahr, hat doch begründet, weshalb er sich vorher im Kreis der Sondierer enthalten hat: weil bei der Steuer zu wenig gekommen sei und weil er der CSU nicht vertraue, die sich rüpelig betragen habe.
Draußen merkt man davon bei der CSU nichts. Als Schulz allen Mitarbeitern dankt, auch aus dem Konrad-Adenauer- und dem – also dem – „…wie heißt eure Parteizentrale in München?“ Seehofer schauspielert den Empörten: „Franz - Josef - Strauß!“ Im Ernst wünscht er dem „lieben Martin Schulz“ viel Erfolg beim Parteitag. Er kann jetzt nur hoffen, dass es der SPD-Chef nicht vermasselt. Und zuletzt, sagt Seehofer: „Man braucht ja bei solchen Operationen immer auch ein Quentchen Glück.“