EuGH-Urteil: Deutschtest für Türken gekippt - Was sind die Folgen?
Seit 2007 gibt es für Türken, die ihren Ehegatten nach Deutschland folgen wollen, einen Sprachtest. Jetzt hat der Europäische Gerichtshof das Gesetz gekippt. Welche Folgen hat die Entscheidung? Und was bedeutet sie für Berlin?
Jedes Jahr ziehen Zehntausende Ausländer aus Nicht-EU-Staaten zu ihren Ehegatten nach Deutschland. Um hier leben zu dürfen, müssen sie zuvor Deutschkenntnisse nachgewiesen haben. Für Türken gilt diese 2007 gefundene Regelung ab sofort nicht mehr, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden.
Wie war die Lage bisher?
2007 hat die schwarz-rote Bundesregierung ein Zeichen gegen Zwangsehen setzen wollen. Gerade aus der Türkei kämen Frauen, die hier von ihren Männern in Unfreiheit gehalten würden, hieß es. Die Pflicht zum Test sollte die Frauen, die hier zu Lande vielfach mit dem Schlagwort „Importbräute“ belegt wurden, zu mehr kultureller Eigenständigkeit im neuen Heimatland befähigen – und im Zweifel zu Gegenwehr gegen Ansprüche ihres Mannes. Außerdem wollte man damit die Integration insgesamt fördern.
Wie kam der Fall zum EuGH?
Die Klägerin Naime D., Jahrgang 1970, wollte 2011 zu ihrem sechs Jahre älteren Mann nach Deutschland ziehen. Sie beantragte bei der deutschen Botschaft in Ankara ein Visum für sich und zwei ihrer Kinder. Ihr Mann, ebenfalls Türke, lebt seit 1998 in Deutschland, hat eine Firma und verfügt über eine Niederlassungserlaubnis. Die Botschaft lehnte mangels Sprachkenntnissen ab. Dagegen klagte die Frau vor dem Berliner Verwaltungsgericht. Dies legte den Fall in einem so genannten Vorabentscheidungsverfahren in Luxemburg vor, weil europarechtliche Fragen betroffen sind.
Wie verlief der Sprachtest bei Frau D.?
Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind „einfache Deutschkenntnisse“ erforderlich, etwa die Fähigkeit, sich vorzustellen oder nach dem Weg zu fragen – und die Antworten zu verstehen. Frau D. erzielte mündlich 62 von 100 möglichen Punkten, ein „ausreichend“, schriftlich 14,11 von 25 Punkten. Formal hätte das für ein Visum genügt. Allerdings: Die Ergebnisse zählten nicht, so die Botschaft. Frau D. sei Analphabetin. Einen Fragebogen habe sie wahllos angekreuzt, einige Sätze nur auswendig gelernt und wiedergegeben.
Wie begründen die Richter ihr Urteil?
Im Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen, das der EU-Vorläufer Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1970 in Brüssel mit der der Türkei abschloss, steht wörtlich: „Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.“ Der als „Stillhalteklausel“ bekannte Absatz lässt Beschränken nur zu, soweit es sie zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens schon gab. Frau D. kann sich dabei, auch ohne erwerbstätig zu sein, auf die Rechte ihres Mannes berufen, der als Selbstständiger Geld verdient. Denn Familienzusammenführung sei „ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger“, so der Europäische Gerichtshof, der damit wirtschaftliche Freiheiten und private Lebensumstände eng verknüpft: Auf die freie Entscheidung, sich hier niederzulassen, könne es sich „negativ auswirken, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen.“
Türken brauchen zukünftig keinen Nachweis ihrer Deutschkenntnisse mehr
Welche Folgen hat das Urteil?
Die Entscheidung ist nicht nur maßgeblich für den Fall von Frau D., sondern für alle EU-Mitgliedstaaten, die über vergleichbare Nachzugsregelungen verfügen oder solche planen. Die Vorschrift im deutschen Aufenthaltsgesetz ist damit auf Türken unanwendbar geworden. Gekippt ist sie nicht. Andere Ausländer müssen weiter Tests bestehen, um ihren Gatten hinterherziehen zu können. Darin liegt keine Diskriminierung und auch kein Verstoß gegen das Ehe- und Familiengrundrecht, hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Ausnahmen gelten laut Gesetz nur für Hochqualifizierte, wenn die Ehe schon vor der Einreise bestand, oder Blue-Card-Inhaber, denen ein EU-Staat den Aufenthalt für einen – meist hochqualifizierten – Job gestattet hat. Auch Personen, die aus gesundheitlichen Gründen kein Deutsch lernen können, dürfen ohne Test kommen.
Kam das Urteil überraschend?
Nein. Seit Jahren mehren sich Hinweise aus de EU, dass Vorschriften rechtswidrig sind. Auch hatte sich der zuständige EU-Generalanwalt kürzlich gegen den Pflicht-Test ausgesprochen.
Wie sind die Reaktionen der Politik?
Die Opposition sieht sich in ihrer jahrelangen Kritik bestätigt. Vertreter von Grünen und Linken forderten, auf die Sprachprüfung generell zu verzichten. Migrantenverbände klagen seit langem, die Deutschpflicht belaste die Familien. Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Günter Krings (CDU) kritisierte, der EuGH lege den Anwendungsbereich des Abkommens sehr weit aus. Dass eine erfolgreiche Integration Sprachkenntnisse voraussetzt, stelle das Gericht nicht infrage.
Können Türken doch noch in die Pflicht genommen werden?
Der deutsche Gesetzgeber kann es zumindest versuchen. Nach EuGH-Rechtsprechung können „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ die Freiheiten aus dem deutsch-türkischen Assoziierungsabkommen nachträglich beschränken. Dazu könnte auch der Kampf gegen Zwangsheirat gehören, so der Europäische Gerichtshof
Damit eine solche Maßnahme aber verhältnismäßig wäre, müsste sie bei am Test Gescheiterten Einzelfallprüfungen vorsehen – eine Art Härtefallregelung also.
In diese Richtung ging bereits ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2012, das die Anforderung für den Nachzug von Ausländern zu hier lebenden Deutschen lockerte. Danach sei von dem Erfordernis abzusehen, „wenn Bemühungen um den Spracherwerb im Einzelfall nicht möglich, nicht zumutbar oder innerhalb eines Jahres nicht erfolgreich sind“. Allerdings müssten sich Betroffene dann nach der Einreise vor Ort um ihre Deutschkenntnisse bemühen.
Berlin hatte lange Zeit Probleme mit "Importbräuten"
Was bedeutet die Entscheidung für Berlin?
Die Berliner Reaktionen auf den Richterspruch des EuGH schwanken zwischen „Das ist eine Katastrophe“ und „Alles halb so wild“. Berlin hatte eine Zeit lang stark mit dem Problem der sogenannten Importbräute zu kämpfen – also damit, dass junge Männer, vor allem Türken, lieber eine unterordnungswillige Frau aus der Heimat einfliegen ließen, als eine der selbstbewussteren hiesigen Frauen zu heiraten. Auf den Willen der importierten Braut kam es dabei nicht an. Mit der Einführung des Sprachnachweises als Erfordernis, das vom Heimatland aus erfüllt werden muss, sollte die Integration erleichtert und sollten Zwangsehen zumindest erschwert werden.
Dies ist gelungen, auch wenn das nicht nachweislich an dem Gesetz lag. „Es gibt schon seit Jahren den Trend, dass die Direktheiraten aus der Türkei zurückgehen“, berichtet etwa Berlins frühere Ausländerbeauftragte Barbara John. „Man heiratet eher seinesgleichen, der Partner soll auch etwas können – die Unbedarften, die man leichter wie einen Fußabtreter behandeln kann, sind nicht mehr so gefragt.“ Es sei dennoch schade, dass die Deutschkurse jetzt nicht mehr im Ausland besucht werden müssten. Denn wenn die Person erst einmal hier sei und in der Familie abtauche, werde hinsichtlich eines Deutschkurses nicht mehr viel passieren, und es setze dann auch niemand durch. Laut John sollten die Konsulate bei der Visa-Erteilung direkt Anlaufstellen für die Sprachkurse mitteilen.
Der Kreuzberger CDU-Politiker Kurt Wansner ist von dem Richterspruch hingegen entsetzt. „Das ist eine Katastrophe“, sagte Wansner dem Tagesspiegel. Er erlebe immer wieder, dass Frauen 20 Jahre in Deutschland leben und kein Wort Deutsch sprechen. „Die isolieren sich selbst, so werden sie nie an unserer Gesellschaft teilhaben können“, meint Wansner. Dass die Ehefrau schon im Ausland Deutschkenntnisse erwerben musste, sei sinnvoll gewesen – „Von wem soll sie es denn hier lernen, etwa von der Schwiegermutter, die selbst kein Deutsch kann?“
Laut Innenverwaltung sind in Berlin im Jahr 2013 insgesamt 28 085 Aufenthaltserlaubnisse zum Familiennachzug erteilt worden, davon 5878 an türkische Staatsangehörige. Allerdings lässt die Zahl laut Innenverwaltung keine Rückschlüsse hinsichtlich des Spracherfordernisses zu. Es sei nicht in allen Fällen ein Sprachnachweis nötig gewesen. Versagungsgründe würden gar nicht erfasst – in wie vielen Fällen also ein Visum wegen Mangels an Sprachkenntnissen abgelehnt wurde, ist nicht weiter aufgeschlüsselt.
Der Richterspruch gilt nur für Türken. „Die große Frage ist: Was ist mit den Drittstaatlern?“, sagt Berlins Integrationsbeauftragte Monika Lüke. Das Verwaltungsgericht hatte auch diese Frage dem Gericht vorgelegt, aber keine Antwort bekommen – zum Ärger des Gerichts. Denn dort werden auch viele Fälle anderer Staatsbürger verhandelt, in denen es um Familiennachzug und die dafür gültige EU-Richtlinie geht. Diese Frage muss erneut vorgelegt werden.
Jost Müller-Neuhof, Fatina Keilani