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 Angela Merkel in der Video-Schalte mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu europäischen Wirtschaftshilfen.
© Sandra Steins/AFP

Europa und die Erinnerung: Deutschlands Chance, sich mit der Geschichte der anderen zu versöhnen

Mit den Vorschlägen zu Hilfen für die pandemiegebeutelten Nachbarn geht Deutschland den richtigen Weg in die EU-Ratspräsidentschaft Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Gerd Appenzeller

Eigentlich sollte in Berlin seit dem 9. Mai eine Europa-Zukunftskonferenz arbeiten. Corona hat einen Strich durch die Planung gemacht.

Stattdessen hat Europas Zukunft bereits begonnen: durch den gemeinsamen Plan Emmanuel Macrons und Angela Merkels zur Rettung der besonders durch die Pandemie gebeutelten Länder, und durch das ehrgeizige EU-Projekt Ursula von der Leyens mit noch gewaltigeren Summen.
Statt einer Konferenz wird sich nun wohl die gesamte deutsche EU-Präsidentschaft ab Juli bis zum Jahresende diesem Zukunfts-Thema widmen. Es wird ein halbjähriges Praxissemester, sozusagen.

Alles, was die Kanzlerin auf die Agenda setzen wollte, ist bereits vorgegeben. Deutschland wird sich als Mediator beweisen müssen. Für das wirtschaftlich und politisch einflussreichste Mitglied der Europäischen Union und seine Politiker steckt darin eine große Chance.

Es ist nicht die Stunde derer, die besonders rigorose Vorstellungen haben. Am Ende wird sich Erfolg oder Misserfolg der deutschen Präsidentschaft daran messen lassen, ob sie einen Kompromiss zwischen den Hoffnungen der einen und den Prinzipien der anderen erreichen konnte.

Chance zur Versöhnung mit der Geschichte der anderen

Mit dieser Debatte endet dann vielleicht auch jene jüngste Phase, in der in den einst von Deutschland besetzten Ländern immer wieder Vergleiche zwischen der heutigen deutschen Dominanz in der EU und der NS-Gewaltherrschaft zwischen 1939 und 1945 gezogen wurden.

Konservative und populistische Politiker in Deutschland stufen diese Rückgriffe auf die dunklen Seiten der deutschen Geschichte gerne als billiges Erpressungsmanöver ein.

Sie verweigern sich der Erkenntnis, dass der Terror von SS und Wehrmacht unermessliches Leid gebracht hat, und dass dieses Leid Teil der jeweiligen Familienüberlieferung geworden ist – so wie in vielen deutschen Familien aus der Generation der Großeltern die Erzählungen über Flucht und Vertreibung aus dem Osten bis auf den heutigen Tag präsent sind.

Bahnbrechende Ausstellung über Deutschland in London

In der europäischen Geschichtswissenschaft wurde das auch nie verdrängt. Am eindringlichsten hat es Neil MacGregor in der von ihm kuratierten Londoner Ausstellung „Germany – Memories of a Nation“ 2014 festgehalten. Als Symbol für Flucht und Vertreibung stellte er einen hölzernen Handkarren aus, wie ihn hunderttausende von Familien als einziges Transportmittel nutzten, um ihre letzte Habe auf der Flucht zu retten. Er schrieb dazu: „Außerhalb von Deutschland weiß man davon wenig. In Deutschland ist es Teil fast jeder Familiengeschichte“.

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Auf die Blindstellen in der deutschen Erinnerung hingegen hat, um nur ein Beispiel zu nennen, der Historiker Heinrich August Winkler sehr deutlich bereits in seiner Rede zum 70. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2015 im Bundestag hingewiesen: „Würden die Deutschen der bequemen Versuchung nachgeben, sich nicht mehr an das erinnern zu wollen, was Deutsche nach 1933 und vor allem im Zweiten Weltkrieg an Schuld auf sich geladen haben, sie würden doch immer wieder damit konfrontiert werden, dass die Nachfahren der Opfer diese Geschichte so leicht nicht vergessen können. SS und Wehrmacht haben vielerorts Verbrechen begangen, die aus der kollektiven Erinnerung der betroffenen Völker nicht zu löschen sind“.

Merkel muss die divergierenden nationalen Interessen ausgleichen

Wie stark die Position der deutschen Bundeskanzlerin in der europäischen Politik noch ist, wird sich in den kommenden Monaten auch daran ablesen lassen, ob es ihr gelingt, die divergierenden nationalen Interessen auszugleichen.

Nach vorne zu blicken, ohne zu verdrängen, was gewesen ist. Ein jüdisches Sprichwort sagt: Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung. Ohne diese Erkenntnis hätte Europa nie zusammen gefunden.

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