Schwere Vorwürfe: Deutschland wurde präzise gewarnt – die Bürger aber nicht
Eine britische Forscherin erhebt schwere Vorwürfe: Die Flut sei präzise vorhergesagt worden – doch die Reaktion blieb aus. Wer ist politisch verantwortlich?
Die ersten Zeichen der Hochwasserkatastrophe in Deutschland wurden bereits neun Tage zuvor von Satelliten erfasst. Vier Tage vor den Fluten warnte das Europäische Hochwasser-Warnsystem (Efas) die Regierungen der Bundesrepublik und Belgiens vor Hochwasser an Rhein und Meuse. 24 Stunden vorher wurde den deutschen Stellen nahezu präzise vorhergesagt, welche Distrikte von Hochwasser betroffen sein würden, darunter Gebiete an der Ahr, wo später mehr als 93 Menschen starben.
Das sagte Hannah Cloke, Professorin für Hydrologie an der britischen Universität Reading und eine der Entwicklerinnen des Europäischen Hochwasser-Warnsystems. Ihr Urteil in der „Sunday Times“: „Monumentales Systemversagen“ ist der Grund für eine der tödlichsten Naturkatastrophen in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. „Die Tatsache, dass Menschen nicht evakuiert wurden oder die Warnungen nicht erhalten haben, legen nahe, dass etwas schiefgegangen ist.“
Dem ZDF sagte sie am Sonntagabend, man habe die Daten zur Warnung über ein umfassend großes Gebiet an Deutschland übermittelt. Aber „irgendwo ist diese Warnkette dann gebrochen, sodass die Warnungen nicht bei den Menschen angekommen sind“.
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Auch das nordrhein-westfälische Innenministerium räumt inzwischen ein, dass die Überflutungen nicht überraschend kamen. Amtliche Warnungen vor extremem Unwetter hätten sich am vergangenen Montag um 10:28 Uhr konkretisiert, zitiert die "Bild" das Ministerium. Da ein solches Ereignis abzusehen gewesen sei, sei am Dienstag eine "Landeslage" eingerichtet worden. Das Ziel: frühzeitig erkennen, ob in einem Kreis oder einer kreisfreien Stadt überörtliche Hilfe benötigt wird.
Damit stellt sich die Frage, ob die vielen Toten der Katastrophe hätten verhindert werden können. Und, ob der Katastrophenschutz in Deutschland systematisch versagt hat - und wer dafür verantwortlich ist.
Die FDP sieht die Schuld bei Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). „Die rechtzeitigen Warnungen der Meteorologen sind weder von den Behörden noch vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinreichend an die Bürgerinnen und Bürger kommuniziert worden“, sagte Fraktionsvize Michael Theurer der Deutschen Presse-Agentur. „Es bietet sich das Bild eines erheblichen Systemversagens, für das der Bundesinnenminister Seehofer unmittelbar die persönliche Verantwortung trägt.“
Die Linke fordert bereits seinen Rücktritt. Entweder habe die Regierung die Warnung nicht ernst genommen, oder sie sei nicht mit dem nötigen Nachdruck an die zuständigen Behörden weitergeleitet worden, erklärt Linkspartei-Chefin Susanne Hennig-Wellsow. "Beides wäre unverzeihlich und ein gravierender politischer Fehler. Und der wiegt angesichts der Ausmaße der Katastrophe so schwer, dass ein Rücktritt des zuständigen Ministers mehr als angemessen ist."
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Auch der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach fällt ein hartes Urteil: „Beim Katastrophenschutz sind wir genauso schlecht vorbereitet wie beim Pandemie-Schutz.“ Deutschland müsse sich besser auf künftige Pandemien und Naturkatastrophen vorbereiten. „Die Infrastruktur dafür muss geschaffen und ausgebaut werden, der Katastrophenschutz hat hier eine zentrale Bedeutung“, sagte er der „Rheinischen Post“.
Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) räumt zwar Verbesserungsbedarf beim Katastrophenschutz in seinem Bundesland ein, sieht hier aber keinen großen grundsätzlichen Probleme. Im „Bild live“-Politiktalk „Die richtigen Fragen“ sagte der CDU-Politiker am Sonntagabend: „Es kann nicht alles 100-prozentig funktioniert haben.“ Denn dann dürfte es keinen Toten gegeben haben. Aber: „Es gab nach meinem heutigen Erkenntnisstand keine großen grundsätzlichen Probleme.“
Der Leiter des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), Armin Schuster, verteidigt sich ebenfalls. „Unsere Warninfrastruktur hat geklappt im Bund“, betonte Schuster am Sonntagabend im „heute journal“ des ZDF. „Der Deutsche Wetterdienst hat relativ gut gewarnt.“ Das Problem sei, dass man oft eine halbe Stunde vorher noch nicht sagen könne, welchen Ort es mit welcher Regenmenge treffen werde.
Ein Sprecher des DWD sagte dem ZDF, dass das Warn-Management von Seiten seiner Behörde sehr gut gelaufen sei. „Wir haben getan, was zu tun war.“ Man habe Gemeinde-genau mit genug zeitlichem Vorlauf vor Regenmengen von bis zu 200 Litern pro Quadratmeter gewarnt. Vielerorts habe die höchste Warnstufe gegolten.
„Wir haben 150 Warnmeldungen über unsere Apps, über die Medien ausgesendet“, sagte Schuster. Er verwies darauf, dass die Warn-App "Nina" des BBK neun Millionen Nutzer habe. Allerdings konnte er nicht sagen, wo die Menschen auch durch Siren gewarnt wurden - und wo nicht.
Auch Hartmut Ziebs, von 2016 bis 2019 Präsident des Deutschen Feuerwehrverbandes, macht der Bundesregierung schwere Vorwürfe. Diese habe die Bevölkerung nicht genug in den nationalen Katastrophenschutz eingebunden, weil man die Menschen damit nicht „belasten“ wolle.
In einem offenen Brief, aus dem „Bild“ zitiert, heißt es: „Der Bund hat jahrelang Übungen unter dem Titel Lükex durchgeführt. Das Undenkbare wurde durchgespielt und analysiert. Es wurden Forderungskataloge aufgestellt. Konsequenzen? Fasst Null! Kann nicht passieren, darf nicht passieren, können wir der Bevölkerung nicht erklären, kostet zu viel Geld, die Liste der Ablehnungsgründe ist fast unerschöpflich.“
Die britische Wissenschaftlerin Cloke sieht in Deutschland Versagen auf mehreren Ebenen. „Es fehlt eine bundesweit einheitliche Herangehensweisen an Flutrisiken. Es braucht unterschiedliche Flutpläne für verschiedene Szenarien“, meint sie.
Trotzdem sieht Cloke auch die Bürgerinnen und Bürger in der Eigenverantwortung. Um Notfallpläne, Nahrungsreserven und medizinische Vorräte müsse sich immer noch jeder Einzelne kümmern.