Wer gibt den Ton in der EU an?: Deutschland sollte nicht länger an Macron herumkritteln
Frankreichs Präsident versucht Europa zu gestalten und wird dafür kritisiert. Dabei entsteht sein Führungsanspruch aus Deutschlands Trägheit. Ein Gastbeitrag.
Claire Demesmay leitet das Frankreich-Programm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christine Pütz ist Referentin für Europäische Union im Referat EU/Nordamerika der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie nahmen die Ratifizierung des Aachener Vertrages zum Anlass, das aktuelle Verhältnis von Deutschland und Frankreich und die Bedeutung für die EU analysieren.
Seit kurzem hat sich in den politischen Debatten und den Medien hierzulande ein unangenehmer Unterton eingeschlichen, wenn es um das europapolitische Engagement des französischen Staatspräsidenten geht. Seit der Besetzung der Spitzenposten in der EU und im IWF wird viel über Macrons Führungsanspruch geschrieben. Die Rede ist von „Brachialgewalt“, mit der er dem Rest der EU seinen Willen aufzwinge.
Seine Initiativen beim G7-Gipfel in Biarritz wurden in der Art kommentiert, dass Macron sich „als der eigentliche Chef der EU inszeniere“ und mit der Nominierung Sylvie Goulards für eins der wichtigsten Ressorts in der EU-Kommission seine Interessendurchsetzte. Derartige unterschwellig empörte Formulierungen suggerieren, dass Macron Führung simuliere und sich eine Rolle anmaßt, die ihm gar nicht zustehe.
Ohne Zweifel, der französische Präsident liebt große Bühnen. Viel wichtiger ist aber, dass seine Rolle aus einem Vakuum entsteht, das die deutsche Regierung erst geschaffen hat. Macron hat unzählige Male zum Ausdruck gebracht, wie wichtig ihm die Zusammenarbeit mit Deutschland ist. Ende 2018 scheute er sogar nicht vor einer Liebeserklärung an Deutschland vor dem Bundestag zurück.
An Initiativen und Ideen aus Paris mangelt es in der Tat nicht, sei es zur Eurozone, zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und vieles mehr. Indes wurden diese Vorschläge von der deutschen Regierung regelmäßig ignoriert oder abgewiegelt. Nach zwei zähen Jahren des Wartens und der Enttäuschungen über Deutschlands Zurückhaltung hat Paris nun zu einer neuen Haltung gefunden.
Macrons "Coups" blieben immer offen für Partner
Angesichts enormer europapolitischer Herausforderungen und geopolitischer Bedrohungen herrscht an der Seine ein akutes Gefühl der Dringlichkeit. Paris will nicht länger warten, es will jetzt handeln, zur Not auch ohne Deutschland. Macrons „Coups“, wie deutsche Medien sie darstellen, mögen ihm ein Image als Macher geben. Doch bleiben sie immer offen für Partner.
Nachdem Berlin eine europäische Digitalsteuer ablehnte, führte Frankreich sie auf nationaler Ebene und handelte sich den Zorn Washingtons ein. Doch einigte sich Macron beim G7-Treffen in Biarritz mit Trump auf Verhandlungen über die Besteuerung von Internetfirmen im multilateralen Rahmen der OECD. Und auf den pompös inszenierten Sommerempfang von Wladimir Putin in der Ferienresidenz der französischen Präsidenten folgte die konkrete Verabredung, die Gespräche im Normandie-Format wiederaufzunehmen. Dieses Format zwischen Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine war einst Aushängeschild für die gute außenpolitische Abstimmung zwischen Berlin und Paris.
Die Wahrnehmung hierzulande ist aber eine andere. Setzt sich Deutschland gegen den Willen Frankreichs durch, wie etwa bei der Ostsee-Gaspipeline North Stream2, handelt es sich um legitime deutsche Interessen. Setzt sich Frankreich durch, wie etwa bei der Nominierung der EU-Posten, geht es auf Kosten Europas. Statt sich an vermeintlichen Chefposen des französischen Partners abzuarbeiten, sollte Deutschland selbst wieder eine aktive Europapolitik betreiben. Man muss nicht alles mögen, was europapolitisch aus Paris kommt, doch darf die Bundesregierung Initiativen aus Paris nicht weiter unambitioniert aussitzen und hoffen, dass sie sich totlaufen. Berlin sollte endlich reagieren und bei Bedarf Alternativkonzepte anbieten – Zuviel steht auf dem Spiel.
Zu viele Treffen bringen zu wenige Ergebnisse
Wenn die größten EU-Mitglieder nicht mehr in der Lage sind, ihre teilweise unterschiedlichen Interessen in einer gemeinsamen Politik auszugleichen, gleitet Europa in einen Zustand gefährlicher Schwäche. Im aktuellen globalen Kontext wird uns diese Schwäche noch viel teurer zu stehen kommen als alle befürchteten Mehrausgaben in unsere europäische Zukunft. Zu viele deutsch-französische Treffen auf höchstem Level erbringen zu wenige Ergebnisse. Die Meseberger Agenda von Juni 2018, die eine ambitionierte Roadmap für die deutsch-französische Kooperation sein sollte, hat in erster Linie einen deklaratorischen Charakter.
Im Aachener Vertrag, der am 26. September im Bundestag und am 3. Oktober in der französischen Nationalversammlung ratifiziert wurde, steckt zwar Potenzial, aber Ergebnisse werden erst langfristig zum Tragen kommen können (lesen Sie hier eine Analyse zum Aachener Vertrag von Sigmar Gabriel, d. Red.). Abwarten kann sich die EU angesichts der drängenden Fragen jedoch nicht länger leisten.
Frankreich braucht Deutschland und Deutschland braucht Frankreich. Der Bedeutung der deutsch-französischen Beziehungen für Frieden und Wohlstand in Europa waren sich gerade auch die Europäerinnen und Europäer der ersten und zweiten Stunde immer bewusst. Insbesondere Deutschland muss sich bewusst sein, wie essentiell eine deutsch-französische Partnerschaft auf Augenhöhe ist. Berlin sollte sich wieder zurückbesinnen und auch angesichts der sich auftürmenden globalen Herausforderungen im Einklang mit seinen wichtigsten EU-Partnern Europas Zukunft aktiv gestalten.
Claire Demesmay, Christine Pütz