Wende in der Asylpolitik: Deutschland setzt Dublin-Regeln für aus Syrien Flüchtende aus
Das Dublin-System der EU-Asylpolitik ist teuer, demütigend für Flüchtlinge und ineffektiv - so seine Kritiker seit Jahren. Jetzt hat Deutschland es für Syrer ausgesetzt.
Deutschland hält sich im Falle syrischer Flüchtlinge nicht mehr an das gemeinsame EU-Asylverfahren der Dublin-Regeln. Mit einem internen Erlass, den jetzt die Dachorganisation europäischer Flüchtlingshilfsorganisationen Ecre öffentlich machte, setzte das "Bundesamt für Migration und Flüchtlinge" am 21. August die sonst obligatorische Prüfung aus, ob Asylsuchende in einem anderen EU-Land zuerst europäischen Boden betraten und somit dorthin zurückgeschickt werden können. In seinen "Verfahrensregeln zur Aussetzung des Dublinverfahrens für syrische Staatsangehörige" vom vergangenen Freitag, aus dem Ecre zitiert, werden auch sämtliche Abschiebungen ins europäische Ausland - meist die Länder an der EU-Südgrenze, Italien und Griechenland - gestoppt, die bereits in Gang gebracht sind.
Bamf: 2015 nur 131 zurückgeschickte Syrer
Der Sprecher des Bundesamts, Mehmet Ata, bestätigte die Praxis auf Anfrage des Tagesspiegels. Für Syrer würden Dublin-Verfahren "zum gegenwärtigen Zeitpunkt .... faktisch nicht weiter verfolgt". Schon bisher habe das Bamf "sehr genau geprüft", wenn humanitäre Gründe dafür sprachen, ein Asylverfahren hier abzuwickeln, die nach den Dublin-Vorschriften eigentlich Sache eines anderen EU-Landes waren. Nach Auskunft des Sprechers hat es in diesem Jahr bis Ende Juli "nur 131 Überstellungen von Syrern in Rahmen der Dublin-Verordnung" gegeben.
Forscher: Flüchtlinge entscheiden zu lassen, nützt allen
Flüchtlingshilfsorganisationen und Wohlfahrtsverbände kritisieren Dublin seit Jahren, weil es Flüchtlinge lange in einer Art Warteraum zum Asyl festhält und damit ihrer raschen Integration im Wege steht. Außerdem, so die Kritik, erreicht die Regel - das Land des ersten Kontakt ist fürs Asylverfahren zuständig, auch wer es nach Norden schafft, wird daher zurückgeschickt - den erklärten Zweck nicht, verursacht aber hohe Kosten und Verwaltungsaufwand: Im vergangenen Jahr stellte Deutschland etwa 35.100 sogenannte Übernahmeersuchen an andere EU-Partnerländer. Tatsächlich weggeschickt wurden aber lediglich 4.800 Menschen. Dazu kommen Kosten und Aufwand für Flüchtlinge, auf deren "Übernahme" durch Deutschland wiederum die EU-Nachbarn Anspruch haben. Migrationsforscher empfehlen, stattdessen die Wünsche und Familienbeziehungen der Neuankömmlinge zu berücksichtigen, weil dies auch im Sinne der Aufnahmeländer sei: Wer bereits Verwandte oder Freunde in Schweden hat, der findet dort Wohnraum, womöglich Arbeit und Hilfe zur Integration - während er oder sie in Italien ohne diese Hilfen wäre.
Brüssel lobt Berlin
Aus Brüssel kam am Dienstagnachmittag Lob für die deutsche Initiative: „Wir begrüßen diesen Akt europäischer Solidarität“, sagte eine Sprecherin der EU-Kommission. Deutschland sei derzeit der einzige EU-Staat, der Flüchtlinge aus Syrien nicht systematisch in EU-Ersteinreiseländer wie Italien oder Griechenland zurückschicke. Für die EU-Kommission zeige die deutsche Entscheidung, dass es nicht möglich sei, die Länder an den EU-Außengrenzen mit dem Flüchtlingsstrom alleinzulassen, kommentierte die Sprecherin. Es seien derzeit jedoch keine anderen EU-Staaten bekannt, die wie Deutschland auf eine Anwendung der sogenannten Dublin-Verordnung verzichteten.
Merkel und Hollande beharren auf Dublin
Bisher war gerade Deutschland die wichtigste Anwältin der Dublin-Prinzipien und pochte stets auf deren Einhaltung. Gestern noch - das Bamf-Papier war bereits durchgesickert - verlangten die Kanzlerin und ihr Gast, Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande, in einem gemeinsamen Statement die umgehende Einrichtung von Zentren in Italien und Griechenland, in denen Flüchtlinge gemäß den Dublin-Vorschriften registriert werden sollen. Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günther Burkhardt, nannte dies im Gespräch mit dem Tagesspiegel realitätsfern: "Wenn in Griechenland, das derzeit das Haupteinreiseland ist, nicht einmal die Ernährung und Unterbringung von Flüchtlingen möglich ist, wie sollen dort auch noch Registrierung funktionieren?" Burkhardt begrüßte die neuen deutschen Richtlinien als erste Einsicht in die Realität, "dass Dublin gescheitert ist". Leider erhalte man aber immer noch die Fiktion aufrecht, für andere als Syrer könne es funktionieren. Die Bundesregierung müsse jetzt aber "der Realität ins Auge schauen und das System auch für andere Flüchtlinge aussetzen".
Es sei widersinnig, dass Afghanen weiterhin monatelang auf ihre Verfahren warten müssten. Statt der formalen Dublin-Prüfung, wer für sie zuständig sei, brauchten "auch Afghanen und Iraker eine inhaltliche Prüfung ihres Asylantrags". Jetzt sei es an der Zeit, "politisch ein neues System zu entwickeln und gleichzeitig der Bevölkerung überall in der EU klarzumachen, dass der Schutz für Flüchtlinge Aufgabe aller ist und hier die zivilisatorischen Werte Europas auf dem Spiel stehen". Ein "Europa der Zäune", so Burkhardt, werde "nicht funktionieren".