Einfluss aus Ost-Europa: Deutschland müsste Europas Osten dankbarer sein
Ostmitteleuropa ist der Raum, dem Deutschland seinen gewachsenen Einfluss zu verdanken hat. Das müsste mehr Deutschen bewusst werden. Ein Kommentar
Für Deutschland beginnt eine Woche, in der die Nachbarn im Osten im Mittelpunkt stehen müssten. Sie beginnt mit dem mehrtägigen Staatsbesuch des estnischen Präsidenten Toomas Ilves, gefolgt vom Gipfel der EU zur östlichen Partnerschaft in Riga, und endet bei der Präsidentenwahl in Polen womöglich mit einem Überraschungsergebnis, das vor acht Tagen nur wenige im Auge hatten. Da bieten sich Anlässe, mit den Augen der Balten und Polen auf die Welt zu schauen und mehr von ihren Hoffnungen, Sorgen und Nöten zu erfahren. Zugleich würden die Deutschen dabei mehr über sich selbst lernen. Sie spielen in den Perspektiven ihrer östlichen Nachbarn die zentrale Rolle. Ist ihnen das bewusst?
Estland ist Spitze bei der bürgerfreundlichen Entwicklung zu „e-Government“
Die Woche bietet Gelegenheit, Geschichten zu erzählen von dem neuen Europa, das in dem Vierteljahrhundert seit dem Ende der Blockteilung gewachsen ist – und doch noch immer nicht so recht in den Köpfen verankert zu sein scheint. Geschichten von wiedergewonnenem Vertrauen, von wirtschaftlicher Verflechtung, von Solidarität und vorausschauender Kooperation, die verhindert, dass Spannungen zu bewaffneten Konflikten wie in der Ukraine eskalieren. Oder, in Polens Fall, von den innenpolitischen Dynamiken, die einem Außenseiter plötzlich die Chance eröffnen, das Establishment zu überrumpeln und Präsident zu werden. Je nachdem, wie viel Raum die Medien diesen Ereignissen widmen, wird die Woche Auskunft geben, welchen Platz die Nachbarn 2015 im Weltbild der Deutschen einnehmen.
Das Beispiel Estland zeigt: Fortschritt kann aus dem Osten kommen. Das Land ist Spitze bei der bürgerfreundlichen Entwicklung zu „e-Government“: einer Verwaltung, die Behördengänge und Wartezeiten minimiert, weil die Bürger das meiste per Internet erledigen können. Russlands Aggression in der Ukraine bereitet Präsident Ilves Sorge, nicht aber Angst. Für ihn sind diese Monate ein Praxistest, dass die Neumitglieder in EU und Nato sich auf die Beistandsgarantie verlassen können. Deutschland führt die schnelle Eingreiftruppe der Nato, deren sichtbare Präsenz Moskau abschrecken soll. Estlands Reformen und die Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg, sagt Ilves selbstbewusst, haben die russische Minderheit dort unempfänglich für Moskauer Instrumentalisierungsversuche gemacht. Nun will Ilves sehen, dass Europa zu seinen Werten steht. Es könne keine Normalisierung mit Moskau geben, ehe der Bruch der Friedensordnung geheilt ist.
Der Genius loci in Riga
Lettland hat seit Januar die EU-Präsidentschaft inne. Wie andere kleine Mitglieder vor ihm kann ein Land, dessen Verwaltung auf zwei Millionen Einwohner ausgelegt ist, die Aufgabe, eine Union von 550 Millionen Bürgern zu führen, nur stemmen, weil große EU-Partner, voran Deutschland, mit Experten aushelfen. Die Politik der östlichen Partnerschaft, mit der die EU Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien, der Ukraine und Weißrussland eine Perspektive unterhalb der Mitgliedschaft bot, ist angesichts des Ukrainekriegs festgefahren. Der Genius loci in Riga, die unübersehbare russische Minderheit, die größer als in Estland aber ähnlich gut integriert ist, sowie die geografische Nähe zur Ukraine und zu Russland können helfen, kreative Auswege zu suchen.
Die Entwicklung in Polen kommt überraschend. Bis zur ersten Runde der Präsidentschaftswahl vor einer Woche galt es als ziemlich sicher, dass Amtsinhaber Bronislaw Komorowski spätestens in der Stichwahl bestätigt wird und Deutschland ihn als bewährten Partner an der Staatsspitze behält, selbst wenn es bei der Parlamentswahl im Herbst zum Regierungswechsel kommt. Doch der Unmut über die Regierung der liberalbürgerlichen „PO“ (Bürgerplattform), die nach acht Jahren ausgelaugt ist und Affären produziert, hat sich nun früher als erwartet entladen: gegen Komorowski. Der Sensationserfolg des nationalkonservativen Andrzej Duda entwickelt eine Eigendynamik: Er führt in den Umfragen. Seine Partei „PiS“ hat früher mit antideutschen Parolen Stimmung gemacht. Die Bundesregierung muss sich nach Jahren harmonischer Zusammenarbeit mit der „PO“ wieder auf einen sperrigeren Partner Polen einstellen.
Das ist ein kleiner Dämpfer, gemessen an der Gesamtentwicklung. Ostmitteleuropa ist, auch dank der Erweiterung von EU und Nato, eine Erfolgsgeschichte – für sich und für Deutschland. Es ist der Raum, dem Deutschland seinen gewachsenen Einfluss in erster Linie zu verdanken hat – und dem es seine gewachsene Verantwortung schuldet. Das müsste mehr Deutschen bewusst werden.