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Überschätzt. Die Zahl der alten Männer in Deutschland ist um 43 Prozent niedriger als angenommen.
© dpa

Falsche Schätzungen: Deutschland ist weniger alt als gedacht

Die Zahl der über 89-Jährigen in Deutschland ist niedriger als bisher angenommen. Aus Forschersicht müssen deshalb auch die Prognosen über künftige Renten- und Pflegeausgaben nach unten korrigiert werden.

„Entdramatisierende Nachrichten zur demografischen Entwicklung sind scheinbar unerwünscht.“ Auf diesen Nenner bringt der Koblenzer Sozialforscher Gerd Bosbach die jüngsten Mitteilungen des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerungsentwicklung in Deutschland. Dem Amt zufolge brachte die Bevölkerungszählung von 2011 „kein neues Bild über die Altersstruktur der Bevölkerung“. Bosbach sieht das ganz anders. Die Prognosen über künftige Pflege- und Rentenausgaben müssten aufgrund der neuen Daten „nach unten korrigiert werden“, sagte er dem Tagesspiegel. Die Zahl der über 89-Jährigen liege um gut 14 Prozent niedriger als bisher angenommen.

Erste Zählung seit Jahrzehnten

Alles also gar nicht so schlimm mit Pflege, Rente und dem demografischen Wandel in Deutschland? Tatsächlich weist der Zensus 2011 – beruhend auf der ersten Bevölkerungszählung seit mehr als zwei Jahrzehnten – für die Altersgruppe „90 Jahre und älter“ nur 550 000 Personen aus. In bisherigen Annahmen war man von 628 000 ausgegangen. Die Schätzungen beruhten auf der Fortschreibung von Zählergebnissen aus den Jahren 1987 (Westdeutschland) beziehungsweise 1981 (Ostdeutschland). Besonders überschätzt – nämlich um 43 Prozent – wurde die Zahl der alten Männer. Zustande gekommen seien die hohen Abweichungen durch Fehler in den Melderegistern, sagt Bosbach. Viele Migranten etwa kehrten nach dem Arbeitsleben wieder in ihre Heimatländer zurück, ohne sich vorher in Deutschland abzumelden.

Versicherer profitieren von düsteren Prognosen

Für Bosbach, der selber lange beim Statistischen Bundesamt gearbeitet und ein Buch mit dem Titel „Lügen mit Zahlen“ geschrieben hat, haben die zu hoch gegriffenen Annahmen aber auch System. „Ohne die Furcht vor dem demografischen Wandel wären die Arbeitgeber unter einer SPD-Regierung niemals aus der paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung rausgekommen“, sagt er. Und das Versicherungsgewerbe profitiere von möglichst düsteren Prognosen – mit dem Verkauf staatlich geförderter Riester-Renten ebenso wie mit den neu auf den Markt gebrachten Offerten für zusätzliche private Pflegeabsicherung (Pflege-Bahr).

Im Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock sehen sie die Fehlannahmen weniger dramatisch. Man habe „schon immer gewusst, dass die Zahlen im hohen Alter nicht stimmen“, sagt der Forscher Rembrandt Scholz. Sebastian Klüsener vom selben Institut treibt eine andere Fehleinschätzung stärker um. In Deutschland leben, so es hat die Erhebung gezeigt, weniger Ausländer als angenommen. Im Mai 2011 waren es 6,2 Millionen Menschen ohne deutschen Pass. Das sind 470 000 weniger als zum selben Zeitpunkt vom Ausländerzentralregister erfasst. Durch die falschen Annahmen habe man die Lebenserwartung der Migranten überschätzt, sagt Klüsener. Daraus könnten sich relevante Folgerungen für das Gesundheitssystem ergeben – etwa für die Frage nach dem Zugang zu Gesundheitsangeboten und der Effektivität der medizinischen Versorgung für Migranten.

Rainer Woratschka

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