Die Schöne und das Biest: Deutsche Wohnen statt Lufthansa - was der Wechsel im Dax über Deutschland verrät
Der Abstieg der Lufthansa und der Aufstieg der Deutsche Wohnen im Börsenindex Dax ist nicht nur eine Wirtschaftsstory. Es geht um Emotionen. Ein Kommentar.
Die Lufthansa fliegt aus dem Dax. Die Deutsche Wohnen steigt als Nachfolger auf. Das rückt Prioritäten zurecht: Ein Dach über dem Kopf braucht jeder, Fliegen ist Luxus. Andererseits steckt mehr dahinter als Umsätze und Börsenwerte zweier Unternehmen. Unser Verhältnis zu ihnen hat mit Urbedürfnissen zu tun.
Schon die Jäger und Sammler brauchten beides, die sichere Zuflucht und das Erkunden. Bis heute begleiten große Gefühle das Reisen und das Wohnen: Sehnsüchte und Nöte, Fernweh und Heimat, Urlaub und Alltag.
Fliegen ist in Verruf, die persönliche Fernreise nicht
Dazu zählen auch Sympathie und Hass gegenüber Unternehmen, die auf ihre Weise für die Globalisierung stehen und, wenn man so will, ihr freundliches und ihr hässliches Gesicht repräsentieren. Jedenfalls in Deutschland und ganz besonders in der Mieterstadt Berlin, wo die Deutsche Wohnen auf Ablehnung trifft. Dies geschieht zudem, während eine globale Pandemie die Menschen am Reisen hindert und an ihre Wohnungen bindet.
Wie Deutsche die beiden Konzerne betrachten, verrät einiges über nationale Psychologien samt ihren Widersprüchen. Das Fliegen ist in Verruf geraten, nicht aber die eigene Fernreise. Die Deutschen belegten 2019 Platz drei der Staaten mit den meisten international Reisenden – hinter den USA und China, die beide viel mehr Einwohner haben.
Sie sind stolz auf die Lufthansa, ein deutsches Vorzeigeunternehmen von Weltruf. Sie ist gewiss keine Billiglinie für jedermann; die Privilegien für ihre Vielflieger haben etwas Elitäres. Doch der Anblick der Check-in-Schalter mit dem Kranich-Logo vermittelt vielen Deutschen Tausende Kilometer entfernt von daheim ein Gefühl heimischer Wärme: ein Stück Zuhause in der Welt.
Lokalstolz über einen Berliner Konzern im Dax? Keine Spur
Die Deutsche Wohnen ist weit davon entfernt, solche Empathie auszulösen. Von Lokalstolz, dass Berlin nach dem Abstieg von Schering vor 14 Jahren wieder einen Dax-Konzern hat, ist nichts zu spüren.
Der anbiedernde Zusatz „deutsch“ im Namen kann nicht verdecken, dass sehr viele das Unternehmen als „Heuschrecke“ betrachten: einen bedrohlichen Eindringling in die gewohnten Marktverhältnisse mit sozialem Wohnungsbau, Genossenschaften mit ihrem solidarischen Ansatz und ganz vielen privaten Vermietern, die zum Großteil Herz und sozialen Verstand haben. Und wenig gemein mit der Karikatur von den Spekulanten, die auf Gewinnmaximierung aus sind. Die gibt es auch, aber als Minderheit.
Dass Wohnungskonzerne überhaupt so groß werden – die Deutsche Wohnen ist bereits der zweite im Dax –, hat auch mit der deutschen Haltung zu Wohneigentum zu tun. In vielen Ländern Europas wohnen über 70 Prozent der Menschen in ihren eigenen Wohnungen und Häusern. In Deutschland nur gut 50 Prozent. Berlin ist Schlusslicht mit 15 Prozent.
Wohneigentum: Warum liegt Deutschland hinter Italien, Polen, Rumänien?
Warum? Sage keiner, weil alle, die mieten, zu arm seien. Wenn es in Portugal, Italien, Polen, Rumänien geht, warum nicht hier?
Vielleicht auch, weil viele das Mieten trotz aller Klagen bequemer finden und die Verantwortung für Eigentum scheuen. Wie wäre es mit mehr Fördern und Fordern? Wohneigentum ist die beste Sicherung gegen Altersarmut.
Zur Redlichkeit gehört auch: Die größten Preistreiber sind immer höhere Standards für Nachhaltigkeit und Klimaschutz beim Bauen und Bewirtschaften. Wenn der Zorn auf die „Heuschrecke“ Bürger und Regierung motiviert, die Preistreiber einzuhegen und die Eigentumsquote zu erhöhen, dürfte man der Deutsche Wohnen fast dankbar sein.