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Umsturz in der Ukraine: Des Präsidenten Disneyland

Die Maidan-Demonstranten übernehmen die Innenstadt und das Regierungsviertel in Kiew. Und sie lassen tausende neugierige Bürger auf das Gelände der Residenz von Viktor Janukowitsch. Sie finden ein Reich des Prunks und der Pracht.

Marmorsäulen, Golfplatz, Schiffsanlegestelle mit Piratenschiff: Die Residenz des geflüchteten Präsidenten Viktor Janukowitsch ist geradezu sagenumwoben. Janukowitsch hatte sich auf mehr als 100 Hektar Land auf Staatskosten eine Art GUS-Disneyland aufgebaut. Medien haben immer wieder über dieses Wunderland berichtet. Die Ukrainer nahmen diese Nachrichten stets neugierig auf. An diesem Samstag hatten dann tausende Kiewer die Möglichkeit, das Gelände und die zahlreichen Gebäude selbst in Augenschein zu nehmen. Am späten Vormittag machte die Nachricht in der Kiewer Innenstadt die Runde, dass die Residenz von Viktor Janukowitsch verlassen sei.

Das Volk besucht die Residenz des Präsidenten

Die Maidan-Aktivisten organisieren Touren nach Meschegorija, das rund 30 Kilometer von der Kiewer Innenstadt entfernt liegt. Bereits am frühen Nachmittag sind unzählige Menschen auf dem Beinen, oftmals mit der ganzen Familie, auch mit Kinderwagen. Die Menschen bleiben friedlich. Viele achten sogar darauf, nicht auf den Rasen der Residenz zu treten, sondern die Wege zu nutzen. Die Menschen laufen in langen Schlangen diszipliniert durch die Gärten und fotografierten von außen in die Räume hinein. Später dürfen sie die Gebäude auch betreten. In der Residenz wurde an nichts gespart. Es wurden viele teure Materialien wie Marmor, Granit, Edelhölzer verbaut, einige Fensterscheiben sind aus wertvollem Kristallglas. Die Neugierigen sehen schwere Goldmünzen mit Janukowitschs Antlitz und eine gewaltige Garage voller Luxuswagen.

Neben der riesigen Villa Janukowitschs befinden sich dort zahlreiche Gästehäuser, ein Privatzoo, Sportstätten wie Tennisplätze, ein 18-Loch-Golfplatz sowie ein Hubschrauberlandeplatz. Das 138 Hektar große Gelände ist teilweise bewaldet, ein Jagdschloss gehört auch dazu. Am Samstag sehen die zahlreichen Besucher viele Spuren, die auf einen überstürzten Aufbruch hindeuten. Vor einem Gebäude steht ein Kleiderständer. In einem der künstlich angelegten Seen finden sich in einem engen Transportkäfig Zuchtenten und anderes Edelgeflügel. Journalisten lassen die Tiere frei. Und sie finden noch mehr.

Aktivisten retten Dokumente aus dem See

Aus einem See fischen sie Dokumente, die offenbar eilig vernichtet werden sollten, und trocknen sie in einer Halle. Es sind Listen über horrende Ausgaben, wohl für Renovierungen und Angestellte. Aber es sind anscheinend auch Dokumente über Personen zu finden, die Janukowitsch als seine Gegner betrachtet. So soll der Name von Tatjana Tschornowol auf einer schwarzen Liste von Reportern stehen. Unbekannte hatten die investigative Journalistin Ende Dezember massiv verprügelt und lebensgefährlich verletzt. Tschornowol wirft Janukowitsch vor, hinter der brutalen Attacke zu stecken. Außerdem werden in der Residenz Belege gefunden, die auf die Zahlung von zum Teil hohen Bestechungsgeldern hindeuten.

Die Menschen, die vom Mittag an nach Meschegorija kommen, wollen die Verschwendungssucht Janukowitschs mit eigenen Augen sehen. Seit Jahren gab es immer wieder Berichte über das ehemalige Gästehaus, das Janukowitsch privatisieren ließ, für „einen Appel und ein Ei“ erwarb und mit Geld aus der klammen Staatskasse aus- und umbauen ließ. „Ich habe die Medienberichte nicht geglaubt. Bei uns wird viel geschrieben. Doch jetzt habe ich die Ausmaße mit eigenen Augen gesehen – und bin sprachlos“, sagt Tanja, die zusammen mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Sohn zu dem Anwesen gekommen ist.

Am Samstagvormittag hatte das Parlament, die Rada, die Entlassung der alten Regierung beschlossen. Die Rada ist für ihre rauen Sitten und ihre turbulenten Sitzungen berüchtigt. Immer wieder haben sich Abgeordnete in der Rada gegenseitig verprügelt, der Umgangston war eher rau, und manche Sitzung endete im Chaos. Deshalb war es umso bemerkenswerter, dass eine Radasitzung zur Abwechslung einmal diszipliniert und gut organisiert abgelaufen ist. Es waren die Führungspersonen der Vaterlandspartei, die beim Ablauf Regie führten; und die Ukrainer waren live dabei, denn die Sitzung wurde live im Fernsehen übertragen. Wie schon seit Wochen auf dem Maidanplatz in der Kiewer Innenstadt, lief die Besetzung der Ämter streng nach Plan ab. Der neue Parlamentssprecher, Alexander Turtschinow, ein enger Vertrauter der am Samstag frei gelassenen Julia Timoschenko, sagte kurz vor dem Beginn der Sitzung: „Wir haben vor kurzem unsere Strategie und Taktik mit unserer Parteichefin in Charkiw besprochen. Bis jetzt ist alles nach Plan verlaufen.“

Während sich der Präsident per Videobotschaft meldete, wurden in Kiew Tatsachen geschaffen. Das Regierungsviertel ist in der Hand der Maidan-Aktivisten. Die beiden Politiker Arsenij Jazenjuk und Oleg Tjanibok riefen die Menschen auf, friedlich zu bleiben. „Lasst Gebäude heil und plündert nichts, am Ende wäre es euer Geld, mit dem das alles wieder aufgebaut werden muss“, sagte Tjanibok in der Rada. Bis zum Abend ist auch tatsächlich alles friedlich geblieben. Die Polizei hatte schon am Vormittag die Seiten gewechselt. Die Sicherheitskräfte stünden „an der Seite der Bevölkerung“ und teilten deren „Streben nach raschen Veränderungen“, teilte das Innenministerium mit. „Wir würdigen die Toten“ der Zusammenstöße in Kiew, hieß es in der Erklärung, die im Namen aller dem Innenministerium unterstehenden Sicherheitskräfte auf der Webseite des Ministeriums veröffentlicht wurde. Der zuständige Minister war zuvor aus der Ukraine geflüchtet. Bei den Straßenschlachten der vergangenen Tage waren mindestens 77 Menschen getötet worden.

Im Osten des Landes ist die Stimmung trübe

In mehreren Städten der Ukraine stürzten Regierungsgegner Statuen des sowjetischen Revolutionsführers Lenin. Er gilt ihnen als Symbol des alten Regimes, weil die bisher Regierenden noch im sowjetischen System groß geworden sind. In Kiew harrten Tag und Nacht auch weiterhin 10 000 Demonstranten auf dem Maidanplatz aus.

Angesichts der Entwicklungen zweifelten Verantwortliche mehrerer prorussischer Regionen im Osten und Süden der Ukraine die Legitimität des Parlaments an. Die Vertreter örtlicher Regierungen und Parlamente beklagten auf einem Kongress in Charkiw eine „Lähmung der Zentralmacht“ und eine „Destabilisierung der Regierung“. Der Osten der Ukraine gilt als überwiegend russlandfreundlich, der Westen als vornehmlich proeuropäisch. Im Land habe es eine bewaffnete Machtübernahme gegeben, sagte der Funktionär Oleg Zarjow auf dem Kongress. Er warnte davor, dass die Opposition auch die russischsprachigen Regionen im Osten erobern könne. „Unsere Hauptaufgabe ist nun, uns zu organisieren und kein Chaos zuzulassen“, sagte er. Der Kongress beschloss, die Halbinsel Krim unter seine Kontrolle zu nehmen. Aus Angst vor antisemitischen Übergriffen inmitten des Chaos in der Hauptstadt hat derweil der ukrainische Rabbiner Moshe Reuven Asman die Juden zum Verlassen Kiews aufgefordert. (mit dpa/AFP)

Nina Jeglinski

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