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Kanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama beim G7-Gipfel in Elmau in Bayern.
© Michael Kappeler/dpa

Europa und Amerika: Der Westen schwächelt dramatisch

Scheitert Europa an der Flüchtlingskrise? Scheitert Amerika an Donald Trump? Eine Rückkehr des Nationalismus bedroht die transatlantische Wertegemeinschaft. Ein Kommentar

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wenn Nationalisten Nationalisten Nationalisten nennen, ist Krise in Europa. Wenn ein konservativer Populist das konservative Establishment entsetzt sein lässt, ist Krise in Amerika. Europa und Amerika bilden jenes Gebilde, das „der Westen“ genannt wird. In dem Begriff schwingen Menschenrechte und Demokratie, Gewaltenteilung und diverse Freiheiten mit.

Dieser Westen hatte einmal den Anspruch, stark genug zu sein, um seine Werte zu verteidigen. Den Anspruch gibt es immer noch, die Stärke indes fehlt.

„Einseitige Lösungen helfen nicht weiter“, sagte Angela Merkel kurz vor dem entscheidenden EU-Türkei-Gipfel. Zuvor gab es Fingerzeige aus der Bundesregierung in Richtung Österreich, Frankreich, Polen, Ungarn (Horst Seehofers Flirt mit Viktor Orban ist ein Sonderfall). Allesamt unsolidarisch, Drückeberger, Verweigerer. Da denkt jeder nur an sich, während Deutschland das gute Ganze im Blick hat. Undankbar sind die Nachbarn und egoistisch. Deutschland hilft und zahlt immer – und wenn es dann mal ein Entgegenkommen braucht, wird es im Stich gelassen. So denkt es nicht nur in den Köpfen der Regierenden, sondern auch vieler Bürger.

Der Westen ist zu schwach, um seine Werte zu verteidigen

Dieses Es, das da denkt, ist die Flucht vor und aus der Verantwortung. Die Entscheidung, mehr als eine Million Flüchtlinge ins Land zu lassen, traf die Bundeskanzlerin alleine, ohne Ab- oder Rücksprache mit anderen europäischen Partnern. Dann sagte sie „wir schaffen das“ und meinte mit „wir“ ihre Landsleute, nicht aber jene Europäer, die jetzt in Mithaftung für ihre Politik genommen werden.

Es war nicht das erste Mal, dass Angela Merkel vorrangig als Souverän eines Nationalstaats handelte. Ähnlich verhielt sich die Kanzlerin bei der Energiewende, in der Finanzkrise (Abwrackprämie), bei der Euro-Rettung. Man kann solche Alleingänge für richtig halten. Doch im selben Atemzug den Nationalismus anderer zu beklagen, ist bigott.

Die Renationalisierung europäischer Politik begann mit der Finanzkrise

Dabei begann der Prozess der Renationalisierung europäischer Politik lange vor der Flüchtlings-, nämlich in der Finanzkrise. Als Nicolas Sarkozy damals von Angela Merkel einen EU-Hilfsfonds für Banken forderte, ließ sie ihn auflaufen. In der Griechenlandkrise vertraten Deutschland und Frankreich konträre Positionen. Beide Male setzte Deutschland sich durch. Für den „Motor der europäischen Einheit“, als das sich das deutsch-französische Duo versteht, waren das zwei Kolbenfresser.

Merkel handelt vorrangig als Souverän eines Nationalstaats

Und da wundert man sich in Berlin, dass Frankreich bei der Aufnahme von Flüchtlingen nun etwas knauserig ist? Überraschend wäre das Gegenteil, die selbstlose Großherzigkeit des gekränkten Nachbarn. In angespannten Zeiten verstärken sich nationale Aversionen und auch Ressentiments.

„Sie schaffen es, wenngleich sie es wieder schaffen, von einer Feindeswelt, die Ruhe will, eingekreist zu sein“, schrieb der Schriftsteller Karl Kraus vor 80 Jahren in „Die Dritte Walpurgisnacht“ über die Deutschen. Die Keule mag zu grob sein, aber eine gewisse emotionale Analogie lässt sich konstatieren. Flüchtlings-Deutschland fühlt sich umzingelt von Anti-Flüchtlings-Nachbarn. Das freilich wäre so lange unproblematisch, wie Flüchtlings-Deutschland für seine Politik geradestehen und deren Gelingen nicht von einer radikalen Änderung der Haltung der Anti-Flüchtlingsnachbarn abhängig machen würde.

Europa hat genug Sorgen

Angela Merkel ist laut Forbes-Liste die „mächtigste Frau der Welt“, wegen ihrer Flüchtlingspolitik galt sie im vergangenen Jahr als Favoritin für den Friedensnobelpreis, in einigen Kreisen sieht man in ihr die nächste UN-Generalsekretärin. Solche Lorbeeren werden nicht für Entscheidungen einer Bundeskanzlerin vergeben, für die sie im Nachhinein eine europäische Solidarität einklagt, ohne die sich das Problem angeblich nicht lösen lasse. Europa hat genug Sorgen. Eine Verschärfung der nationalen Differenzen über die Flüchtlingskrise führt zu einer Beeinträchtigung der Kompromissfähigkeit der übrigen 27 Mitgliedsstaaten auf anderen Feldern.

Renationalisierung plus Verantwortungsflucht in Europa werden ergänzt durch eine ungebremst aggressive Rhetorik von Donald Trump in den USA. Europa dient ihm lediglich als Gegen-Folie: zu viele Muslime, zu viele Terroristen, zu viel Sozialismus.

Der Westen ist geeint - im zweifach Negativen

Mit einem Begriff wie der „transatlantischen Wertegemeinschaft“ kann der republikanische Präsidentschaftsanwärterkandidat nichts anfangen. Vielleicht hält er ihn sogar für einen Widerspruch in sich. Stattdessen soll Mexiko für Amerikas Grenzzaun büßen, China für seine billigen Produkte, Guantanamo ausgebaut, die Folter intensiviert werden (was er jetzt korrigierte, er will sich nicht über das Recht hinwegsetzen).

Donald Trump verkörpert alle Vorurteile, die Europäer über Amerikaner hegen. Kein Wunder, dass jetzt selbst das eigene Lager in Panik gerät. Global orientierte Neokonservative und konservatives Establishment warnen vor diesem Mann. Ob das was nützt, weiß keiner.

Eine kuriose Dramatik liegt in der Luft: Europa und Amerika schreiten Seit’ an Seit’, aber jeder für sich auf eine fundamentale Weichenstellung über ihre Zukunft zu. Im zweifach Negativen ist der Westen geeint wie selten zuvor. Was klingt wie ein Trost, ist leider dessen Gegenteil.

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