Deutschland und Korea: Der verlorene Freund
Der Friedensprozess auf der koreanischen Halbinsel braucht dringend die Unterstützung der Deutschen. Ein Essay.
Nach zwei Jahren der Hoffnung sind die diplomatischen Bemühungen zur friedlichen Beilegung des Nuklearkonfliktes auf der koreanischen Halbinsel erneut erlahmt.
Das Gipfeltreffen, das US-Präsident Trump und Nordkoreas Staatsführer Kim Jong Un im Juni 2018 in Singapur zusammenführte, wo sie vor allem über die Reduktion des nordkoreanischen Atomprogramms sprachen, erzielte allen Absichtserklärungen zum Trotz keinen verlässlichen Erfolg. Krieg zwischen Nord- und Südkorea wird nicht mehr ausgeschlossen. Die deutsche Öffentlichkeit scheint das nicht zu berühren.
Als eine in Deutschland lebende Südkoreanerin macht mich das traurig. Denn es geht um einen Krieg in meiner Heimat, um den Tod sehr vieler Menschen und Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes. Das Argument, man müsse selbst einen Krieg hinnehmen, um die Denuklearisierung Nordkoreas zu erzwingen, schmerzt mich.
So etwas in Deutschland, dem Land, das Koreaner so sehr lieben und dem sie viel Vertrauen entgegenbringen, zu hören, verletzt mich zutiefst. Ich hatte immer gedacht, dass man in Deutschland die Schmerzen eines geteilten Landes am besten versteht und deshalb alles tun würde, um den prekären Frieden auf der koreanischen Halbinsel nicht zu gefährden.
70 Jahre Koreakrieg
2020 jährt sich der Beginn des Koreakriegs zum siebzigsten Mal. In diesem Krieg, dem ersten militärisch ausgetragenen Konflikt des Kalten Krieges, verloren Millionen von Menschen ihr Leben. Sie wussten nicht, wofür sie es lassen mussten.
Die traumatischen Erinnerungen an diesen brutalen Krieg, der am 25. Juni 1950 begann, haben sich bei allen Koreanern bis heute erhalten. Nicht zuletzt wegen dieses Krieges soll sich in Deutschland der Konsens, dass ein Krieg zwischen Ost- und Westdeutschland auf jeden Fall zu vermeiden sei, herausgebildet haben. Selbst nach dem Mauerbau 1961 bestand Willy Brandt auf der Notwendigkeit einer neuen Ostpolitik. Dies war der Beginn der Politik vom „Wandel durch Annäherung“.
In einer Situation, in der es keinen Ausweg aus der verhärteten Konfrontation zwischen Ost und West zu geben schien, appellierte er an alle, mittels einer Politik der kleinen Schritte die teilungsbedingten Leiden der Bürger zu lindern. Darin unterstützte ihn die Mehrheit der Bürger von Westberlin. Man kann sich vorstellen, wie sehr diese Bürger entsetzt waren, als Gerhard Schröder, der damalige Innenminister Adenauers (nicht zu verwechseln mit dem späteren SPD-Kanzler), 1959 noch verkündete, es wäre billiger, Westberlin in die Lüneburger Heide zu verlegen als den damaligen Zustand aufrechtzuerhalten. Umso größer war die Resonanz auf die Appelle Willy Brandts bei den Westberlinern.
Gefühle wie zur Zeit der Kubakrise
Heute betrachten die Südkoreaner die Weltpolitik mit ähnlichen Gefühlen wie die Westdeutschen während der Kubakrise und des Berliner Mauerbaus zu Beginn der 1960er Jahre. Es gibt kaum etwas, was sie selbst tun können, wenn Politiker und Generäle in den USA und Europa über einen weiteren Koreakrieg sprechen. Sie können nur hoffen und beten, dass die neuerlichen Spannungen zwischen den USA und Nordkorea ohne katastrophale Folgen für die koreanische Halbinsel bleiben. Kommt es zum Krieg – in welcher Form auch immer –, wären 75 Millionen Menschen im Norden und im Süden der koreanischen Halbinsel bedroht. Allein in der Metropole Seoul leben 25 Millionen Menschen nicht einmal 50 Kilometer von der Grenze zum Norden entfernt.
Angesichts des Horrors eines Krieges und der Beschränktheit der eigenen Mittel können sie nur auf den Friedenswillen der Großmächte und ihrer Alliierten sowie auf deren Unterstützung des Dialogs und der Annäherung zwischen den beiden Koreas hoffen.
Allerdings scheint Deutschland gegenwärtig nicht auf der Seite derjenigen zu stehen, die die Bemühungen Südkoreas um Friedenssicherung und -dialog unterstützen. Vielmehr hat sich Deutschland als Mitglied des Sicherheitsrats der Vereinten Nation auf die Seite der Hardliner geschlagen. Deutschland hat sich die Forderungen von John Bolton, bis vor Kurzem noch Sicherheitsberater des US-Präsidenten, zu eigen gemacht. Es verlangt, obgleich das von den meisten Experten schon rein technisch als unrealistisch betrachtet wird, als Voraussetzung für Verhandlungen eine sofortige, komplette und unumkehrbare Vernichtung aller Nuklearprogramme Nordkoreas. Zuletzt soll das neuerliche Gipfeltreffen zwischen Donald Trump und Kim Jong Un in Hanoi im Februar 2019 an solchen Forderungen gescheitert sein. Die verhärtete Position all dieser Hardliner, die auf der internationalen politischen Bühne agieren, erschwert den koreanischen Friedensprozess, für den sich der südkoreanische Präsident Moon Jae In seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren mit aller Kraft einsetzt, ganz erheblich. Auch Deutschland unterstützt ihn leider nicht. Für mich und viele andere ist dies eine herbe Enttäuschung.
Politik der kleinen Schritte
Ausgerechnet Deutschland, der vertraute Freund, gehört nicht zu den Unterstützern des Friedensprozesses auf der koreanischen Halbinsel! Deutsche Politiker und Experten haben in der Vergangenheit ihren südkoreanischen Kollegen gegenüber stets die besondere Bedeutung der Politik der kleinen Schritte für die Wiedervereinigung hervorgehoben. Auch im Februar 2018 hatte dies Bundespräsident Steinmeier beim Treffen mit Präsident Moon Jae In betont und diesem seine Unterstützung des von Moon initiierten Friedensprozesses versichert.
Trotzdem ignoriert Deutschland gegenwärtig die Bemühungen der südkoreanischen Regierung. Stattdessen verlangt es eine Verschärfung der Sanktionen gegenüber Nordkorea, obwohl internationale Sanktionsexperten allesamt sagen, dass es wegen der derzeit bestehenden umfassenden Sanktionsregime so gut wie nichts mehr zu sanktionieren gäbe. Die Gründe, warum ausgerechnet Deutschland den Friedensprozess auf der koreanischen Halbinsel nicht unterstützt und zum Motor von im Detail noch verschärften EU-Sanktionen geworden ist, sind nicht bekannt.
Hier wird die Forschung zu den deutsch-koreanischen Beziehungen in Zukunft ein undankbares Feld zu bearbeiten haben. Aber ich wünsche mir – und mit mir viele Südkoreaner – von ganzem Herzen mehr denn je, dass Deutschland wieder ein guter Freund Koreas wird und den Friedensprozess mit aller Kraft und Fantasie unterstützt. Eun-Jeung Lee, 1963 in Daejeon geboren, leitet das Institut für Koreastudien an der FU Berlin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit interkultureller Ideengeschichte und hat mehrfach zum Konfuzianismus veröffentlicht. Im November 2019 erhielt sie für ihre Verdienste um die wissenschaftliche Vermittlung der Wiedervereinigungsproblematik die Moran-Medaille des südkoreanischen Präsidenten.
Eun-Jeung Lee