Biden verwirrt mit Putin-Aussage in Polen: Der US-Präsident bremst selbst die Wucht seiner Worte
Nach Bidens Auftritt macht der Begriff „regime change“ die Runde, bis das Weiße Haus klarstellt: Das sei nicht gemeint. Historisch war die Rede dennoch. Ein Kommentar.
Angekündigt war die Ansprache von Joe Biden im Königspalast von Warschau als „groß“ und „historisch“. Einen Monat nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wollte der 46. US-Präsident deutlich machen, um was es auf diesem Schlachtfeld wirklich geht und unterstreichen, dass die freie Welt sich nicht einschüchtern lasse.
Es wurde eine historische, eine kraftvolle Rede, die all das ansprach, was erwartet worden war: Dass der Westen an der Seite der Ukraine stehe, dass das russische Volk nicht der Feind sei, dass der russische Präsident Wladimir Putin verantwortlich sei, der die Demokratie „ersticken“ wolle. Dass die Welt keine Angst haben müsse, auch wenn die Zeiten hart seien und schwere Prüfungen bevorstünden.
„Habt keine Angst“
Er zitiert den ersten polnischen Papst, Johannes Paul II, der seine Rede zu Beginn seines Pontifikats 1978 – auf der Höhe des Kalten Krieges – mit den Worten „Habt keine Angst“ begonnen hatte. Diese Worte hätten die Welt verändert. Auch Biden will der freien Welt Mut machen, den Kampf gegen die Autokratien nicht zu scheuen.
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Aber dann, zum Ende seiner halbstündigen Rede, sagt Biden einen Satz, der helle Aufregung auslöst: „Um Himmels Willen: Dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben“, ruft Biden.
Hat der amerikanische Präsident zum „regime change“, zum Sturz des Kremlchefs aufgerufen? Das wäre eine atemberaubende Kehrtwende in der amerikanischen Strategie gegenüber Russland – hatten US-Regierungsmitglieder doch immer wieder betont, es gehe nicht um „regime change“.
Was genau Biden mit diesem Satz sagen will und ob dieser Satz so geplant war, ist nicht sofort klar. Hat er es moralisch gemeint, dass Putin jedes Recht verloren habe, von der Welt noch als legitimer Staatschef anerkannt zu werden? Oder hat er tatsächlich dazu aufgerufen, den Mann an der Spitze einer Atommacht aus dem Amt zu entfernen?
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Wenig später stellt das Weiße Haus klar: Nein, die USA rufen nicht zum Sturz Putins auf. Der Präsident habe sagen wollen, dass Putin keine Macht über seine Nachbarn oder die Region ausüben dürfe. Er habe nicht über Putins Macht in Russland gesprochen. Die kurzzeitige Aufregung legt sich wieder.
Der US-Sender CNN berichtete unter Berufung auf einen Mitarbeiter des Weißen Hauses, dass die Äußerung Bidens nicht im vorbereiteten Redetext gestanden habe. Kremlsprecher Dmitri Peskow reagiert kühl: „Das entscheidet nicht Biden, der Präsident Russlands wird vom russischen Volk gewählt.“
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Zurück bleibt zweierlei: Ja, Biden hat die vielleicht bedeutendste Rede seines Lebens gehalten. An symbolischer Stelle: in der Hauptstadt Polens, das auf einmal zu einem Frontstaat geworden ist, hat er dem Westen Mut zugesprochen. Das war wichtig.
Hat sich der US-Präsident hinreißen lassen?
Aber mit seiner missverständlichen Bemerkung, die er offensichtlich spontan in den sorgfältig vorbereiteten Redetext eingefügt hat, hat er die Wucht seiner Worte selbst vorübergehend gebremst. Das hätte es nicht gebraucht.
Nicht unwahrscheinlich ist, dass Biden sich von seinen eigenen Erwartungen an die „historische“ Bedeutung seiner Rede hat überwältigen lassen. Oder von dem, was er kurz zuvor im Warschauer Nationalstadion von ukrainischen Flüchtlingen erfahren hat – da hatte er Putin als „Schlächter“ bezeichnet.
Vor seinen rund 1000 Zuhörern, unter denen offenbar auch ukrainische Flüchtlinge waren, erzählt er mit gedämpfter Stimme von einem kleinen Mädchen in dem Stadion, das ihn gefragt habe, ob es Vater und Bruder jemals wiedersehen werde. Von Biden, der selbst viele Schicksalsschläge erdulden musste, ist bekannt, dass er den Schmerz anderer mitfühlt. Er sieht sich als jemanden, der empathisch ist und „heilen“ kann.
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Schwierig wird es aber, wenn sich der 79-Jährige zu solchen Aussagen hinreißen lässt, die von der eigentlichen Botschaft ablenken. Denn die ist „groß“ genug.
Der Krieg sei schon jetzt „ein strategisches Versagen“ Putins
Der Westen sei auch dank des heldenhaften Widerstands der Ukrainer geeinter denn je, sagt Biden. Es stünden jetzt deutlich mehr Truppen an der Ostflanke der Nato als zuvor, die Sanktionen würden die russische Wirtschaftskraft in den kommenden Jahren halbieren – dieser Krieg, so Biden, sei schon jetzt „ein strategisches Versagen“ Putins. Der könne und müsse den Krieg beenden.
Geschickt ist es auch, dass der US-Präsident das russische Volk direkt anspricht. Die Menschen in Russland seien nicht der Feind des Westens. Was derzeit geschehe, vor allem die gezielten Angriffe auf Zivilisten, seien „nicht die Taten eines großen Volkes“.
Es gebe keine Rechtfertigung der russischen Aggression, und Putin schneide sein Land vom Rest der Welt ab. Die Europäer fordert er auf, ihre Abhängigkeit von russischer Energie zu beenden und sagte zu, dass die Amerikaner dabei helfen würden.
Die Flüchtlinge gehen nicht nur Polen an
Biden bekräftigt das „heilige“ Beistandsversprechen der Nato für alle 30 Bündnispartner, indem er an Putin gerichtet sagt: „Denken Sie nicht mal daran, auch auf nur einen Zentimeter Nato-Gebiet vorzustoßen.“ Und er macht klar, dass die Flüchtlingskrise auch eine Aufgabe der Nato sei, nicht nur die Polens.
Für die Ukrainer indes hat er kaum Neuigkeiten mitgebracht. Die rote Linie Bidens liegt zumindest derzeit noch an der Außengrenze der Nato, nicht in der Ukraine. Eine direkte Kriegsbeteiligung seines Landes und alles, was so interpretiert werden könnte, zum Beispiel eine Flugverbotszone über der Ukraine, lehnt er weiter ab.