Erdogan und die Türkei: Der Sturm nach dem Sturm
Erdogans Vergeltungsbedürfnis ist überbordend. Damit vergrößert er den Kreis seiner Widersacher - und schafft jene Parallelwelt, vor der er so eindringlich warnt. Ein Kommentar.
Frei nach dem Evangelisten Matthäus ließe sich über den zornbebenden Recep Tayyip Erdogan fragen: Was nütze es ihm, wenn er die ganze Opposition zerschlüge und nähme doch Schaden an seiner Macht? Nach dem fehlgeschlagenen Putsch eines Teils der Armee wird der türkische Präsident offenbar von Misstrauen zerfressen. Knapp 9000 Beamte – Gouverneure, Richter, Militärs – hat er bereits entlassen. Sein überbordendes Vergeltungsbedürfnis wird genährt von Mutmaßungen und Verdächtigungen. Doch damit vergrößert Erdogan den Kreis seiner Widersacher. Er schafft jene Parallelwelt, vor der er seine Landsleute so eindringlich warnt.
Der Mut des türkischen Volkes, das sich gemeinsam mit Polizisten und regierungstreuen Soldaten den Umstürzlern in den Weg gestellt und diese schließlich zur Aufgabe gezwungen hatte, verdient Bewunderung. Er zeugt von einem starken Willen zur Verteidigung der Demokratie. Doch der Torso an Demokratie, mit dem Erdogan sein Land noch lenkt, ist nicht das Ideal. Die Geister, die er zu seiner Verteidigung rief, könnten vielmehr auf den Geschmack der Echtheit gekommen sein. Ein Volk, das sich angeblich nur noch mit „Säuberungen“ und geballter Macht beherrschen lässt, verliert rasch den Glauben an die Staatskunst des Herrschers. Erdogan steckt im Dilemma: Je härter er durchgreift, desto schwächer wirkt er.
Wie verlässlich ist eine zutiefst zerstrittene Armee?
Das ist gefährlich – für ihn wie für den gesamten Westen. Auf dem Luftwaffenstützpunkt Incirlik sind auch Bundeswehrsoldaten stationiert, von dort aus fliegen die USA und andere Nato- Länder Einsätze gegen den „Islamischen Staat“. Wie verlässlich ist der Schutz einer zutiefst zerstrittenen Armee, aus deren Reihen der Versuch einer Revolte verübt wurde? Wie verlässlich ist die Einhaltung etwa des EU-Türkei-Abkommens zur Flüchtlingspolitik? Das Verhältnis zwischen Ankara und Washington hatte sich schon vor dem Putschversuch stark abgekühlt. Weil Erdogan seinen Erzfeind, den Prediger Fethullah Gülen, der in den USA lebt, als Drahtzieher der Putschisten beschuldigt und dessen Auslieferung verlangt, nähert sich dieses Verhältnis dem Gefrierpunkt. Die Ansicht, in der Türkei sei mit der Niederschlagung der Revolte das Schlimmste überstanden, könnte sich schon bald als fatale Fehleinschätzung erweisen.