zum Hauptinhalt
Mit Blumen bedeckt ist das Grab der getöteten Studentin Tugce Albayrak. Die junge deutschtürkische Studentin wollte jungen Frauen helfen, die von Männerpack belästigt wurden.
© picture alliance / dpa

Tödliche Zivilcourage: Der Staat muss seine Bürger schützen!

Gerhard Schröder rief einst den „Aufstand der Anständigen“ aus. Das war gut gemeint. Es war aber auch eine Kapitulation des Staates, der selbst für die Sicherheit der Bürger verantwortlich ist. Ein Essay.

Ein Essay von Michael Wolffsohn

Zivilcourage ist eine Tugend. Leider kann sie auch tödlich oder selbstmörderisch sein. Der Aufruf der Politik, also des Staates, man möge „Zivilcourage zeigen“, kommt letztlich einem Aufruf an die Bürger gleich, Leib und Leben zu riskieren. In bester Absicht treibt dabei der Staat, überspitzt ausgedrückt, seine Bürger in den Selbstmord. Das ist die Kehrseite der Zivilcourage in einer Demokratie. Höhepunkt jenes undurchdachten, gedankenlosen Staats-Appells an den Selbstmord der Bürger ist der erstmals im Jahre 2000 von Ex-Kanzler Gerhard Schröder ergangene Aufruf zum „Aufstand der Anständigen“. Er besagt im Klartext: „Als Staat sind wir mit unserem Latein am Ende.“

Zivilcourage in einer Diktatur bedeutet Widerstand. Wer einer Diktatur widersteht, weiß, dass der Ausgang höchstwahrscheinlich tödlich ist. Zivilcourage in einer Diktatur ist noch heldenhafter als in einer Demokratie. In einer Demokratie ist bei Zivilcourage der Tod kein Zufall, sondern Unfall. Er ist Regelfall in einer Diktatur. Hans und Sophie Scholl von der „Weißen Rose“ kamen 1943 unters Fallbeil. Ebenso das Arbeiter-Ehepaar Otto und Elise Hampel, denen Hans Fallada in seinem grandiosen Roman „Jeder stirbt für sich allein“ ein literarisches Denkmal gesetzt hat.

Vom Fallbeil zurück zur Zivilcourage: Lang und länger wird die Opferliste derer, die Anstand, Anständigkeit und Zivilcourage verinnerlicht und nach außen bewiesen hatten – mit tödlichem Ausgang. Wer erinnert sich nicht an leuchtende Vorbilder wie Dominik Brunner oder Tugce Albayrak? Jener wollte im Jahre 2009 vier Schüler vor anderen Jugendlichen schützen. Daraufhin attackierten die Angreifer ihn. Sie schlugen ihn zu Tode. Die junge, mutige deutschtürkische Studentin Tugce wollte jungen Frauen helfen, die von Männerpack belästigt wurden. Das Männerpack wurde dann zum Mordpack. Tugce war ihr Opfer.

Keiner wird behaupten wollen, Dominik Brunner oder Tugce Albayrak hätten sich geopfert, weil sie Gerhard Schröders Aufruf zum Aufstand der Anständigen befolgen und verwirklichen wollten. Sie hatten aber den Geist jenes Aufrufs verstanden, verinnerlicht und umgesetzt. Bis zur letzten Konsequenz, an die der Wortschöpfer und Staatslenker offenbar nie gedacht hatte, denn zu Ende gedacht bedeutet „Aufstand der Anständigen“ Bürgerkrieg. Jeder kann zu den Waffen greifen. Staatliches Gewaltmonopol? Das war einmal. Wohlgemerkt, zu Ende gedacht. Ganz so weit sind wir trotz der Kanzler-Schröder-Torheit nicht.

Ich bewundere und verehre Menschen wie Dominik Brunner, Tugce Albayrak. Sie sind Helden der Menschlichkeit. Ich wage und belege aber eine ketzerische These: Diese Helden der Menschlichkeit sind nicht nur Opfer von Unmenschen, sondern auch von wohlmeinenden Gutmenschen, die von den Bürgern Zivilcourage fordern und sie – ungewollt, versteht sich – quasi in den Selbstmord treiben. Wachsamkeit, Hilfsbereitschaft, Hilferufe – ja und ja und ja. Zivilcourage als „Aufstand“ durch wen auch immer – nein, weil lebensgefährlich. Zivilcourage als Lebenshaltung fördern – ja. Zivilcourage als Staat fordern? Nein. Nehmt nicht dem Kaiser ab, was des Kaisers ist, sondern verpflichtet den Staat zu dem, was des Staates ist: den Schutz seiner Bürger nach innen und außen.

Staatsmacht ist besonders in Deutschland eher verpönt

Ja, es gibt auch Gegenbeispiele, die glücklich ausgingen. Scheinbar widerlegen sie meine These. Im August 2015 plante ein Islamist im Schnellzug Paris–Amsterdam ein Blutbad unter den Fahrgästen. Sechs von ihnen stürzten sich beherzt auf den (nachher Terrorabsichten bestreitenden) jungen Mann und überwältigten ihn. Flugs wurden die zivilcouragierten Retter ideell belohnt. Frankreichs Präsident Hollande verlieh ihnen die höchste Auszeichnung der Republik. Sie wurden Ritter der Ehrenlegion. Wortreich pries das Staatsoberhaupt ihre heldenhafte Tat und ihre vorbildliche Zivilcourage. „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“ Wir kennen diesen klassischen Satz aus Bert Brechts „Leben des Galilei“. Der Sozialist Hollande hat ihn offensichtlich vergessen oder nicht gekannt. Ja, bedauernswert ist ein Staat, der Helden braucht, um staatliche Aufgaben zu erfüllen, die er nicht leisten kann oder will.

Die präsidiale Hymne Hollandes konnte nicht die Tatsache überzuckern, dass Fahrgäste, ebenso wie Bürger, Schutz durch den Staat suchen und stattdessen nur staatsmännische Worte bekommen. Hier wurden Bürger – übrigens drei Amerikaner, zwei von ihnen Soldaten, und ein Brite – aktiv, wo eigentlich der Staat als Staat gefordert ist: beim Schutz der Bürger nach innen und außen.

Diese Courage war übrigens eher Militärcourage als Zivilcourage. Welche und wie viele Zivilisten haben die Kraft, Ausbildung und Jugendlichkeit dieser tapferen Männer? Schwächere und ältere Zivilisten werden diesem Vorbild beim besten Willen nicht nacheifern können.

Staatsmacht ist besonders in Deutschland eher verpönt. Aus gutem und bekanntem Grund. Staatsmacht war in Deutschland lange übermächtig, im Westen bis 1945, im Osten bis 1989. Das lag nicht nur an den braunen und roten Henkern, sondern auch manchen deutschen Denkern im 19. und 20. Jahrhundert. Sie erhöhten, überhöhten den Staat zum Götzen, und der Bürger war nicht citoyen, im Sinne eines einsatzfreudigen Mitentscheiders und Mitgestalters, sondern „Der Untertan“, auch ohne Heinrich Manns Roman-Karikatur.

Ein neues Deutschland konnte, wollte und sollte den Staat ganz bewusst eben nicht wieder zum Götzen erheben. Folgerichtig ist staatliche Sicherheit, Staatssicherheit, ist auch die Polizei nicht mehr „dein Freund und Helfer“, sondern „Bulle“. Sie ist auch deshalb „Bulle“, Feind, weil das freundschaftlich helfende Polizeibild zwar in der Weimarer Republik eingeführt, doch erst im „Dritten Reich“ richtig publik wurde. Da war die Polizei weder Freund noch Helfer, sondern Henkershelfer. Sie fasste Gemüsediebe und ließ die Massenmörder gewähren. Quantitativ war das in der DDR anders, doch qualitativ, funktional nicht. Sicherheit war und blieb zuerst und vor allem Staatssicherheit. Sie bot den willfährigen Bürgern freilich Sicherheit, weil Gewalt knallhartes Staatsmonopol war.

Distanz zur Polizei gehört in Deutschland zum fatalen guten Ton

Darauf aus braun-rotem Doppelgrund zu verzichten, ist Teil der deutschen Staatsräson. Der Staat an sich hat seine Autorität verloren. Eine irgendwie geartete Distanz zur Polizei gehört in Bundesdeutschland zum sicherheitspolitisch fatalen guten Ton. Rechtsextremisten nutzen das entstandene Machtvakuum vornehmlich im deutschen Osten für rechtsfreie, „national befreite“ Zonen, Linksextremisten und Chaoten haben ebenfalls ihre rechtsfreien Räume. Die Polizei rufen weder die einen noch die anderen freiwillig. Mit vereinten Kräften schwächt diese Koalition der Gegensätze den Staat als Staat.

Weil der Bürger nicht mehr an die Autorität des Staates glaubt, ihm nicht mehr vertraut, will er ihm so wenig Macht wie möglich und nötig anvertrauen. Wer will dann noch für eine staatliche Sicherheitsinstitution wie Polizei, Geheimdienst oder, igitt, Militär arbeiten? Die wenigsten und nicht immer die Besten, zumal diese aus einer nur kleinen Zahl von Menschen rekrutiert werden, die trotz des soziokulturellen Drucks überhaupt dazu bereit sind. Wie soll, wie kann der Staat unter diesen Umständen Sicherheit garantieren?

Zivilcourage ist vortrefflich. Sie reicht aber nicht, um diese Lücke zu füllen. Irgendwann greifen die Bürger zur Waffe, wenn der Staat keine oder nur unzureichende Sicherheit gewährt oder gewähren soll. Das gehört in den USA zur Tradition. Dort war der Staat nie Götze, sondern Dienstleister und dabei keineswegs allmächtig. Er sollte es auch nicht sein. Dann aber kümmert sich auch nicht mehr allein der Staat um die Sicherheit des Bürgers vor dem Bürger. Sicherheit ist hier in letzter Konsequenz Bürgeraufgabe, nicht Staatsaufgabe – oder sie ist Staatsaufgabe nur noch teilweise. Der freie Zugang freier Bürger zum Gewehr, zur Waffe, ist Folge dieses Staats- und Bürgerverständnisses. Man muss es nicht mögen (auch ich nicht), aber verstehen muss man die jeweiligen Denk- und Fühl-Voraussetzungen über Bürger- und Staatssicherheit.

Bei genauem Hinsehen entpuppt sich der Aufruf zur Zivilcourage als geradezu lebensgefährdende Mogelpackung. Gemeint ist nämlich nicht „Bürgermut“, also die wörtliche Übersetzung von „Zivilcourage“ (civis = lateinisch für Bürger und courage = englisch und französisch für Mut). Gemeint ist folgendes: Der bei uns in der Regel nicht bewehrte und bewaffnete, also wehrlose Bürger ist aufgerufen, Bürgerwehr zu spielen. Er soll für die innere Sicherheit sorgen, wo und weil und wenn der Staat es nicht kann.

Ich unterstelle niemandem, der die Bürger zur Zivilcourage = Bürgermut aufruft, sie absichtlich gefährden zu wollen. Ganz im Gegenteil. Ich stelle aber fest, objektiv wird das subjektiv Ungewollte erreicht: Wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt, dann schickt der Staat auf diese Weise seine Bürger in den Tod. Er bringt sie zumindest in große Gefahr. Er schafft sich, in letzter Konsequenz, selbst ab, denn es ist die (Ur-)Aufgabe eines jeden Staates, die Bürger nach innen und außen zu schützen.

Am Anfang des Staates war die Sicherheit, nicht die Freiheit

Menschheitsgeschichtlich betrachtet war genau diese Schutzfunktion die Ursache von Gemeinschafts- und später Staatenbildung. Am Anfang des Staates war die Sicherheit. Nicht die Freiheit. Der Einzelne gab seine Freiheit, zumindest Teile der Freiheit auf, um durch die Gemeinschaft und in der Schutzgemeinschaft (später „Staat“ genannt) Sicherheit zu finden. Im Laufe der Menschheitsgeschichte erkämpfte sich der Einzelne, zumindest in Teilen der Welt, wenigstens Teile seiner individuellen Freiheit vom Staat zurück.

Das Gleichgewicht von Freiheit und Sicherheit ist ein schöner Traum. Wir sollten diesen Traum nie aufgeben, doch wir müssen uns auch immer vor Augen halten, dass es ohne Sicherheit kein (Über-)Leben, und ohne (Über-)Leben keine Freiheit gibt.

Die Mehrheit der Bürger in Deutschland und Westeuropa erwartet vom Staat inzwischen vornehmlich soziale Leistungen. Sicherheit und Freiheit setzt man als dauerhaft gegeben voraus und geht davon aus, dass sowohl Sicherheit als auch soziale Leistungen finanzierbar seien. Nun sind, je nach Land, die Staatskassen manchmal voller, manchmal leerer. Nie aber sind sie voll genug, um diese beiden und auch noch andere wichtige Staatsaufgaben, wie zum Beispiel für Bildung und Kultur, gleichzeitig umfassend zu erfüllen.

Diktaturen bieten in der Regel mehr Sicherheit, aber nur für diejenigen, die sie stützen oder wenigstens nicht gefährden. Für Diktaturen spielen die zentralen Konditionen eines demokratischen Staates – Sicherheit, Freiheit und das Streben nach Glück – keine Rolle. Um solche Systeme kann es hier nicht gehen. Uns kann hier nur diese Dreiheit interessieren, für die ein demokratischer Staat sorgen muss. Wenn die Bürger mehr „Sicherheit“ fordern, müssen sie auf Staatsaufgaben in anderen Bereichen verzichten. Wer A sagt, muss auch B sagen. Die Bürger in unserer Demokratie müssen entscheiden, was sie wollen. Alles bekommen sie nicht. Die Entscheidung ist politisch, normativ. Sie ist nicht zuletzt vom jeweiligen Menschenbild beeinflusst: Ist es optimistisch oder pessimistisch?

Pessimisten werden eher auf Sicherheit setzen, Optimisten andere Mehrausgaben bevorzugen. Was ist realistisch, was richtig? Wer in der Verantwortung steht, wird einen Mittelweg wählen. Doch wo ist die Mitte? Es gibt auch nicht für jede Zeit die gleiche Priorität. Ohne eine Gefährdungsanalyse kann die Entscheidung für mehr oder weniger Sicherheit nicht getroffen werden.

Nach dem 13. November 2015, dem Mega-Terror von Paris, waren rund zwei Drittel der Franzosen bereit, Sicherheitsmaßnahmen zu billigen, die noch am 12. November als krasse Beeinträchtigung ihrer Freiheit gegolten hätten. Wenn die Bürger einen Staat akzeptieren, der seine Aufgabe als Beschützer der Bürger nach innen und außen nicht wahrnimmt, sondern diese Aufgabe den Bürgern selbst überlässt, und wenn sie gleichzeitig die Aufforderung zur Zivilcourage annehmen, dann akzeptieren sie damit auch eine staatliche Aufforderung, Selbstmord zu wagen, weil der Staat Mord nicht verhindern kann.

- Der Autor ist Historiker. Soeben ist von ihm erschienen: „Zivilcourage. Wie der Staat seine Bürger im Stich lässt“ (dtv).

Zur Startseite