Katalonienkrise: Der spanische Schatten
Die katalanischen Unabhängigkeitskämpfer sind Populisten? Nicht nur. Der Streit offenbart die Folgen der unaufgearbeiteten Franco-Diktatur. Ein Essay.
An dem kurzen Tag, den die katalanische Republik währte, heulte der 68-jährige Manel Tosca wie ein Schuljunge. Der Elektroingenieur im Ruhestand verbrachte den Nachmittag des 28. Oktober, an dem das Parlament die Unabhängigkeit beschloss, in seinem Wohnzimmer, von wo er ganz Barcelona überblickt, trank katalanischen Weißwein. Und brach immer wieder in Tränen aus. Später erklärte er, ihn hätten die Emotionen dermaßen überwältigt, weil er in diesen Stunden das Gefühl hatte, seine Ahnen seien bei ihm. Sein verstorbener Vater, der Großvater. Gemeinsam mit ihnen hätte er gefeiert, dass die Spanier, die seiner Familie das Leben zur Hölle gemacht haben, endlich aus Katalonien gedrängt worden waren. Zumindest für einen symbolischen Augenblick.
Dass die katalanische Republik im Herbst 2017 noch nicht dauerhaft Wirklichkeit werden würde, ahnte Tosca. Seine Freude schmälerte es nicht. Er war sicher: Dieser historische Moment würde noch seinen Enkeln Kraft geben, um weiterzukämpfen. Gegen die Spanier, für ein unabhängiges Katalonien. Die drei Kinder, noch keines zehn Jahre alt, riefen ihn an jenem ersten und einzigen Tag der katalanischen Republik an, und stimmten gemeinsam die katalanische Nationalhymne an. Manel Tosca kamen wieder die Tränen.
Er war längst nicht der Einzige, der an diesem Tag emotional wurde. Junge Frauen schwenkten mit entrücktem Blick Unabhängigkeitsfahnen, Erwachsene zerbrachen ihre spanischen Plastikausweise und jubelten frenetischer als bei einem Barça-Sieg. Diese Gefühlsausbrüche wurden in den europäischen Medien oft als Hexenwerk der katalanischen Populisten interpretiert. Doch viel mehr zeigen die großen Emotionen der Katalanen, dass erlebtes Unrecht oft über Generationen hinweg wirkt.
Die Katalanen wuchsen mit Erzählungen von Unterdrückung und Demütigung auf
Die Katalanen, die bei der Proklamation der Republik weinten, haben alle ähnliche Familiengeschichten. Sie wuchsen mit Erzählungen von Unterdrückung und Demütigung auf. Und oft erlebten sie noch selbst in der Diktatur Schikane und das Verbot der eigenen Sprache und Kultur.
Weil sich die Zweite Spanische Republik in Katalonien am längsten hielt, galten die Katalanen in der nachfolgenden Franco-Diktatur als Verräter. Als kulturelle Minderheit, die sich als eigene Nation begriff, waren sie der natürliche Feind des spanischen Reichs. Die letzten politischen Gegner wurden kurz vor dem Tod des Diktators hingerichtet, mit dem Würgeeisen. In den katalanischen Klassenzimmern hingen bis 1975 Plakate, auf denen Francisco Franco mit erhobenem Zeigefinger drohte: „Sprecht kein Katalanisch! Sprecht die Sprache des Reiches!“ Wer es doch tat, musste in Umerziehungslager. Zum Beispiel Manel Toscas Vater, der auf Katalanisch dichtete. Der Sohn wiederum sagt, die Unterdrückung durch den spanischen Staat dauere noch immer an. Er nennt ihn Unrechtsstaat oder Besatzungsmacht.
Die Folgen der Franco-Diktatur wirken bis heute
Es ist in Spanien kein katalanisches Phänomen, dass die Ereignisse der Diktatur und des Bürgerkriegs negativ bis in die Gegenwart wirken. Die Wunden des Bürgerkriegs sind überall sichtbar. Das Land ist gespalten in Nachfahren von Republikanern und Kinder der Parteigänger von Francisco Franco. In den Dörfern weiß jeder, ob sein Nachbar aus einer „roten“ oder einer „Nationalisten“-Familie stammt. Die Nachfahren eines Republikaners sind überzeugt, dass die konservative Partido Popular bis heute voller früherer Franco-Gefolgsleute ist. Einige lehnen den gesamten spanischen Staat und alle etablierten Parteien als Kontinuität der Diktatur ab. Als Beweis führen sie an, dass die letzten Reiter-Denkmäler aus der Franco-Zeit erst nach den jüngsten Kommunalwahlen entfernt wurden, als neue Parteien wie Podemos die Mehrheit stellten.
Ein Amnestiegesetz verbot die Verbrechen der Diktatur juristisch aufzuarbeiten
Tatsächlich verabschiedete Spanien die Diktatur sehr zögerlich. Sie endete nicht etwa, weil das Volk gegen den Gewaltherrscher rebelliert hätte, sondern weil Francisco Franco im Jahr 1975 starb. Und danach war eine Zeitlang überhaupt nicht klar, wie es weitergehen würde. König Juan Carlos, den Franco als seinen Nachfolger bestimmt hatte, bestätigte erst mal dessen Regierungschef im Amt. Zwei Jahre später fanden dann doch freie Wahlen statt, begleitet von Anschlägen von Links- und Rechtsextremen. Aus Angst, das Land könnte auf dem Weg zur Demokratie doch noch vom Weg abkommen, verabschiedete die gewählte Regierung als Allererstes, noch vor der Verfassung, ein Amnestie-Gesetz, das verbot, die politischen Verbrechen des Bürgerkriegs und der Diktatur juristisch aufzuarbeiten. Die Verantwortlichen waren überzeugt, dass dies die junge Demokratie destabilisieren würde. Das Gesetz galt als Grundlage für den friedlichen Übergang zur Demokratie. Mittlerweile gilt es vielen eher als Grund für die aktuellen Probleme des spanischen Staats – und für die Katalonien-Krise.
In der Folge fand nämlich eine gesellschaftliche und politische Aufarbeitung der Diktatur so gut wie gar nicht statt. Viele Parteigänger von Franco blieben in der Politik und in den Institutionen – auch wenn sie Kriegsverbrechen verübt hatten oder wenn sie politische Gegner ohne Prozess hatten hinrichten lassen. Die Hingerichteten wurden nie rehabilitiert. Sogar die Massengräber aus dem Bürgerkrieg und aus den Anfängen der Diktatur blieben lange unangetastet.
Dass die Gebeine der Ermordeten seit etwa zehn Jahren allmählich exhumiert werden, geht auf die Initiative von Ehepartnern und Geschwistern zurück. Die Hochbetagten wollten ihre Angehörigen richtig bestatten, bevor sie selbst starben. Das ist längst nicht allen gelungen. Der Prozess ist kompliziert und teuer. Oft wissen die Verwandten gar nicht, in welchem Massengrab sie suchen müssen, und ist das geschafft, müssen die Knochen per DNA-Analyse zugeordnet werden. Um den Prozess zu beschleunigen, baten die Familien die Politik um Hilfe. Doch die Regierung berief sich auf das Amnestiegesetz und tat nichts.
Schuld an der Eskaltion trägt vor allem die konservative Partido Popular
Im Jahr 2011 startete der Ermittlungsrichter Baltasar Garzón einen neuen Versuch, den Staat in die Verantwortung zu nehmen. Er forderte in vielen Rathäusern Listen mit den Namen derer an, die in der Diktatur „verschwanden“ – unter dem Stichwort wurden unter Franco jene geführt, die ohne Prozess ermordet worden waren. Um Informationen über die Lage der Massengräber zu bekommen, ordnete Garzón an, alle noch lebenden Täter gerichtlich befragen zu lassen. Es wurde nie ein Kriegsverbrecher vor Gericht verhört. Stattdessen wurde dem Richter der Prozess gemacht. In der Anklageschrift stand, er habe sich „mit kreativer Vorstellungskraft“ über das Amnestiegesetz hinweggesetzt. Es störte, dass Garzón das internationale Rechtsprinzip der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ über das spanische Amnestie-Gesetz gestellt hatte. Angestrengt hatte die Klage der Verein „Manos Limpias“, saubere Hände, hinter dem Franco-Nachfahren stecken. Sie verhindern bis heute, dass der Staat dabei hilft, die Opfer der Diktatur ordentlich zu bestatten.
Der zögerliche Übergang zur Demokratie hat Spanien ein paar anti-demokratische Anachronismen beschert: Auch im staatlichen spanischen Rundfunk gab es keinen Neuanfang, die Institution wurde nie richtig reformiert. Die Regierung muss Anfragen der Opposition nicht beantworten. Die obersten Richter des Landes werden nach Parteizugehörigkeit ausgesucht und in jeder Legislaturperiode ausgetauscht, weshalb politische Machtkämpfe in Spanien oft vor Gericht ausgefochten werden, was gerade gut in der Katalonien-Krise zu beobachten ist. Und obwohl sich das Land als föderale Union definiert, hat der Zentralstaat sehr viel Macht. Schon lange fordern viele in Spanien eine Verfassungreform. Allen voran die Katalanen.
Mit der Reform des Autonomistatuts hätte der Konflikt verhindert werden können
Vor 15 Jahren machten die regionalen Politiker einen Vorstoß, um das katalanische Autonomiestatut, die Landesverfassung, zu reformieren. Sie wollten mehr Autonomierechte. Und sie wollten historische Kontinuitäten aus der Franco-Zeit beenden. Katalanisch sollte vor dem kastilischen Spanisch erste Amtssprache und Unterrichtssprache werden. Katalonien sollte eine eigene Finanzbehörde bekommen und von seinen Bürgern direkt Steuern kassieren. Und in der Präambel des Textes sollte „die katalanische Nation“ stehen. Bis dahin hatten sich alle Minderheiten – die Basken, die Galizier, die Valencianer – an die Sprachregelung aus der Franco-Zeit gehalten: In Spanien existiert nur die spanische Nation. Auch die Stellung des kastilischen Spanisch hatte niemand angefochten.
Bei den Regionalwahlen am 16. November 2003 wählten 88 Prozent der Katalanen die Parteien, die sich für die Änderung des Autonomiestatuts ausgesprochen hatten. Doch bevor die katalanische Regierung die neue Verfassung umsetzen konnte, musste das spanische Parlament über die neue Landesverfassung abstimmen. Damals regierten in Madrid die Sozialisten, unterstützt von einer katalanischen Regionalpartei. Ein paar Formulierungen wurden entschärft, der Kern des Entwurfs blieb erhalten, das spanische Parlament verabschiedete das katalanische Statut mit knapper Mehrheit. Die Konservativen hatten alle dagegen gestimmt. 2006 stimmte die Mehrheit der Katalanen in einem Referendum für das neue Statut.
Etwa zur gleichen Zeit startete der damalige Oppositionsführer Mariano Rajoy von der Partido Popular eine Kampagne gegen das Statut. Er sammelte vier Millionen Unterschriften, um die Reform der katalanischen Landesverfassung zu kippen. Weil die Konservativen die Mehrheit der Parlamentarier und damit auch der Richter stellten, konnten die Sozialisten den Boykott des Statuts nicht stoppen. Fast vier Jahre lang ließen sie den Text liegen, ohne sich weiter damit auseinanderzusetzen. Erst im Jahr 2010 legten die Richter den Katalanen eine nochmals gestutzte Landesverfassung vor. Sie hatten unter anderem das Wort „Nation“ aus der Präambel gestrichen, und auch den Absatz, in dem es hieß, die katalanische Sprache solle mit dem kastilischen Spanisch gleichgestellt werden.
Manel Tosca sagt, seine Sehnsucht nach der Unabhängigkeit sei damals neu entfacht worden. Das Gezanke um die katalanische Landesverfassung war für ihn eine weitere Demütigung durch die spanischen Unterdrücker. Er ist nicht der Einzige.
Schon 2010 gab es Massendemonstrationen in Barcelona
Im Sommer 2010 fand in Barcelona die erste Massendemonstration statt, mit knapp einer Million Menschen. Das Motto: „Wir sind eine Nation. Wir entscheiden.“ Im September 2012 forderten mehr als eine Million Katalanen in Barcelona einen eigenen Staat. In den folgenden Jahren nahm die Beteiligung an den Kundgebung ständig zu. Als die katalanische Regionalregierung im November 2014 ein nicht bindendes Referendum über die Unabhängigkeit abhielt, beteiligten sich 2,3 Millionen Menschen, 36 Prozent der Katalanen. 80,8 Prozent stimmten mit „Ja“. Nach dem Referendum vom 1. Oktober 2017 konnten die Stimmzettel von 2,3 Millionen gezählt werden, von 43 Prozent der stimmberechtigten Katalanen. 90 Prozent stimmten für die Unabhängigkeit.
Nach der bisherigen Logik wird die Zahl der Unabhängigkeitsbefürworter in Zukunft nicht zurückgehen. Denn ausgerechnet Soraya Santamaria Saenz, jene Abgeordnete, die im Jahr 2006 im Namen der Konservativen die Kampagne gegen das katalanische Autonomiestatut organisiert hatte, übernimmt bis zu den vorgezogenen Wahlen im Dezember in Katalonien die Regierungsgeschäfte. Dass die katalanische Unabhängigkeitsbewegung in den vergangenen Jahren so viel Zulauf erfahren hat, liegt auch daran, dass die spanischen Institutionen an Glaubwürdigkeit verlieren. Seit etwa zehn Jahren werden permanent neue Korruptionsfälle bekannt, in die Politiker der Regierungspartei Partido Popular verwickelt sind. Allein in der Woche vor der katalanischen Unabhängigkeitserklärung musste der spanische Ministerpräsident Rajoy in zwei Prozessen wegen illegaler Parteifinanzierung aussagen. Einer der Kronzeugen sagte aus, der Präsident habe auch selbst Geld kassiert. Bisher hat kein Politiker Konsequenzen gezogen.
Auch deshalb ist für Manel Tosca eine Reform der spanischen Verfassung keine Option mehr. Er will in der katalanischen Räterepublik leben, für die sein Vater im spanischen Bürgerkrieg gekämpft hat. Er will eine solidarische Gemeinschaft, in der das Gemeinwohl an oberster Stelle steht. Mit Bekannten hat er schon eine Ratsstruktur geschaffen, um über eine künftige katalanische Verfassung zu diskutieren. Er will auch gar nicht, dass Katalonien Mitglied der Europäischen Union wird. Tosca sagt, er sei bereit, für die katalanische Republik auf seinen Wohlstand und seine Privilegien zu verzichten. Und viele seiner Bekannten sähen das genauso.