Venezuela-Krise: „Der Sozialismus ist nicht gescheitert!“
Erneut starben zwei Menschen bei Protesten gegen die Wirtschaftsmisere und Korruption in Venezuela – die Zahl der Toten stieg damit auf 39. Der venezolanische Diplomat Bernardo Alvarez spricht dennoch nicht von Volksaufstand oder Wirtschaftskrise.
In San Cristóbal im Westen Venezuelas hat im Februar eine Protestwelle gegen die sozialistische Regierung unter Nicolás Maduro begonnen. Die Demonstranten kritisieren die verbreitete Kriminalität, die grassierende Korruption und die häufigen Versorgungsengpässe. Bei den Protesten in San Cristóbal, Caracas und anderen Städten gibt es immer wieder Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften. Insgesamt kamen dabei schon 39 Menschen ums Leben. Präsident Maduro vermutet hinter den Unruhen eine von den USA unterstützte Verschwörung zum Sturz der Regierung. Im Interview äußert sich der frühere Botschafter Bernardo Alvarez zu den Unruhen in Venezuela, dem Feinbild USA, der Zukunft des Sozialismus und dem Wirtschaftsbündnis "Bolivarianische Allianz für Amerika" (ALBA).
Herr Alvarez, zeigen die Wirtschaftskrise und sozialen Unruhen in Venezuela die Erfolglosigkeit des Sozialismus?
Ich würde das nicht Wirtschaftskrise nennen. Wir reden hier von kurzfristigen ökonomischen Problemen. Zudem führte ein Angriff von Währungsspekulanten zu einer enormen Inflation. Die Lage verbessert sich jetzt aber - wir werden den Kampf gegen all die Spekulanten gewinnen.
Sie glauben, auf dem sozialistischen Weg die Probleme lösen zu können?
Auch wenn viele anderes behaupten: Der Sozialismus ist nicht gescheitert! Es wurden Entscheidungen einfach zu spät getroffen. Einige Spekulanten und Gewalttäter, die das Land aus politischen Gründen schwächen wollten, sind verantwortlich für diese Schwierigkeiten. Aber das sind in Caracas nur 2000 Leute - das ist doch kein Volksaufstand!
Wer hat denn Interesse daran, Venezuela zu schwächen?
Zum Beispiel rechtsgerichtete US-Amerikaner, Kolumbianer und paramilitärische Bewegungen, die Gewalt verbreiten, um das Land zu destabilisieren. Und diese Destabilisierung bekommt dann eine Menge internationaler Aufmerksamkeit. Das ist eine altbekannte Situation für uns.
Sie sehen die USA als einen der größten Gegner ihres Landes. Wollte sich Venezuela mit der Gründung der Bolivarianischen Allianz für Amerika (ALBA) gezielt von den USA abgrenzen?
Ja, von Anfang an! ALBA geht auf eine Initiative der Präsidenten Fidel Castro aus Kuba und Hugo Chavez aus Venezuela zurück. Die US-amerikanische Idee einer gesamtamerikanischen Freihandelszone beherrschte zu dieser Zeit die politische Debatte. Wir in Lateinamerika hatten aber schon Erfahrungen mit dem Neoliberalismus gemacht: Es war ein soziales Desaster! Daher versuchten Venezuela und Kuba ein alternatives Integrationsmodel zu entwickeln - weg vom neoliberalen Ansatz.
Wie erfolgreich war die Abgrenzung?
Es ist nicht leicht, sich gegen ein Drehbuch zu wenden, das mächtige Staaten, allen voran die USA, für einen vorgesehen haben. Wir waren aber erfolgreich, denn das Freihandelsabkommen wurde entgegen des Wunsches der US-Regierung nicht umgesetzt. Ein Jahr nach ALBA gründete Chavez auch Petrocaribe, ein Abkommen über vergünstigte Erdöllieferungen von Venezuela an Karibikstaaten. Beide bilden nun ein enges wirtschaftliches Bündnis. Und die Zahlen belegen den Erfolg.
Inwiefern?
Während der globalen Wirtschaftskrise wuchsen die ALBA-Staaten wirtschaftlich weiter. Zwischen 2005 und 2012 stieg das Bruttoinlandsprodukt in diesen Ländern um 25 Prozent.
Venezuela ist das wirtschaftliche und machtpolitische Zentrum von ALBA. Wurde die Abhängigkeit von den USA nur durch eine Abhängigkeit von Venezuela ersetzt?
Venezuela verfolgt einen komplett anderen Ansatz als die USA. Wir sind kein imperialistisches Land. Wir verhängen keine Sanktionen gegen Länder, deren Führungsstil uns nicht passt. Wir fördern keinen Krieg. Den Vereinigten Staaten geht es nur um Kontrolle und Macht. Das ist nicht der Fall in Venezuela.
ALBA soll eine Alternative zum neoliberalen Kapitalismus sein. Nun reisen sie durch Europa, ein Mekka des Kapitalismus. Wie passt das zusammen?
Uns geht es um gegenseitigen Respekt. Außerdem versuchen auch in Europa zahlreiche Parteien und Organisationen, die vom Kapitalismus verursachten Ungleichheiten zu korrigieren. Viele schauen dabei auf ALBA - und wir sind offen für Gespräche, auch als warnende Stimme: Seid vorsichtig mit dem neoliberalen Model! Ich war zwei Jahre Botschafter in Spanien und habe gesehen, wie die Menschen unter der Krise leiden. Manchmal bekomme ich das Gefühl, der Neoliberalismus sei eine Religion, die keiner wagt zu hinterfragen. Anstatt einer Balance verursacht er eine Nord-Süd-Trennlinie durch Europa.
Bernardo Alvarez (57) ist Exekutivsekretär der Bolivarianische Allianz für Amerika (ALBA), die 2004 als wirtschaftliches und politisches Bündnis für Lateinamerika gegründet wurde. Inzwischen gehören ihr neun Staaten an: Venezuela, Bolivien, Ecuador, Kuba, Nicaragua, Antigua und Barbuda, St. Vincent und die Grenadinen, Dominica und St. Lucia. Alvarez war zuvor Botschafter in den USA und Spanien und bekleidete mehrere Positionen im venezolanischen Wirtschaftsministerium.
Tycho Schildbach
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