Israel und die Orthodoxen: Im Heiligen Land tobt ein Kulturkrieg
Einkaufen am Schabbat, Neubauten auf jüdischen Gräbern, und jetzt auch noch Wehrdienst: Wenn den Strengreligösen etwas nicht passt, fordern sie den Staat heraus..
Er war einer von ihnen. Doch der junge Mann trug die falsche Montur: olivgrüne Uniform statt schwarzem Anzug und Fellhut. Als vor wenigen Wochen ein religiöser Soldat durch Jerusalems ultraorthodoxes Viertel Mea Schearim spazierte, musste er um sein Leben fürchten. Wütende Jugendliche mit wehenden Schläfenlocken verfolgten und verwünschten den jungen Mann. Denn Israels Strengreligiöse sind empört über die Entscheidung der Politik, dass auch sie nun Wehrdienst leisten sollen. Es tobt ein Kulturkrieg im Heiligen Land.
Allerdings sind die Fronten schon lange verhärtet, nicht erst seit der jüngsten Entscheidung des israelischen Kabinetts, auch Charedim (übersetzt: Die vor Gott zittern), zum Militär einzuziehen. Ob geöffnete Läden am Schabbat oder Neubauten auf jüdischen Gräbern: Wenn den Mitgliedern der sich selbst abschottenden Gemeinschaft etwas nicht passt, gehen sie auf die Straße, werfen mit Steinen – und fordern so den Staat heraus. Dieses aggressive Vorgehen geht der säkular gesinnten Mehrheit zunehmend auf die Nerven. Außerdem ist man überzeugt davon, dass die Ultraorthodoxen den Staat zudem finanziell ausnutzen – aber nicht bereit sind, Gegenleistungen zu erbringen. „Momentan befindet sich der Kulturkrieg auf einem Höhepunkt“, sagt der israelische Soziologe Jehuda Goodman. „Der Kampf gegen den Staat gehört zur ultraorthodoxen Identifikationsbildung. Es ist den Charedim wichtig, ihren Unmut auszudrücken.“ Derzeit ist ihnen vor allem der Wehrdienst ein Dorn im Auge.
Zwar dienen bereits heute Ultraorthodoxe in besonderen Einheiten der Armee, doch ihre Zahl ist vergleichsweise gering. Eine Reform galt daher als überfällig. Seit der Staatsgründung waren eingeschriebene Studenten einer religiösen Hochschule (Jeschiwa) von der Einberufung befreit und erhielten zudem Stipendien. Staatsgründer David Ben Gurion hatte die durch den Holocaust fast vollständig ausgelöschte Thora-Wissenschaft wiederbeleben wollen. Aus einigen hundert wurden allerdings im Laufe der Jahrzehnte mehr als 60 000 Jeschiwa-Schüler. Nun sollen auch sie Wehrdienst leisten. Doch Kritiker monieren, die Entscheidung der Regierung tauge im Grunde wenig. So werden die frommen Männer nicht wie üblich mit 18, sondern erst mit 21 Jahren einberufen. Und 1800 besonders begabten Jeschiwa-Schülern bleibt die Uniform ohnehin erspart.
Die Weigerung, in der Armee zu dienen, ist allerdings nur einer der Gründe, weshalb die Säkularen immer häufiger Anstoß am Lebensstil ihrer frommen Landsleute nehmen. Der Normalbürger in Israel muss hart arbeiten und kommt oft trotzdem nicht über die Runden. Für die Ultraorthodoxen hingegen fungiert der moderne Staat als Wohlfahrtsunternehmen. Denn bei den Charedim gilt: Wer Ehre und Ruhm sucht, darf nicht arbeiten gehen, sondern muss Thora und Talmud studieren. So allerdings steuert man keinen einzigen Schekel für den Lebensunterhalt der Familie bei.
Und die Familien sind zumeist groß. Ultraorthodoxe haben deutlich mehr Kinder als andere Gruppen der Gesellschaft. Zehn Sprösslinge sind keinesfalls die Ausnahme. Also müssen staatliche Zuschüsse her. Und die flossen in den vergangenen Jahrzehnten reichlich. Geld für Thoraschulen, verbilligter Wohnraum oder kostenlose Kinderbetreuung: Dank ihrer politischen Schlüsselposition in den Regierungen ließen sich die religiösen Parteien ihre Zustimmung zu Kabinettsentscheidungen häufig teuer abkaufen.
Doch womöglich deutet sich ein Umdenken an. Die Sozialwissenschaftlerin Tamar El-Or etwa beobachtet innerhalb der ultraorthodoxen Gemeinschaft einen neuen Trend, sich – wenn auch langsam – in Richtung israelische Gesellschaft zu bewegen. „Das mögen die extremen Gruppen natürlich gar nicht und wollen mit allen Mitteln am Alten festhalten. Sie sind die Tobenden auf den Straßen.“ Immer mehr Menschen, auch Männer, indes würden arbeiten gehen, anstatt den ganzen Tag nur im Studierzimmer zu sitzen.
Doch selbst wenn sich diese Einschätzung bestätigen sollte, verfügen die Ultraorthodoxen immer noch über eine „biologische Waffe“. Ihre Geburtenrate ist so hoch wie bei keinem anderen Teil der Gesellschaft, sie bringen dreimal so viele Kinder zur Welt wie Säkulare. Schätzungen gehen davon aus, dass bereits in etwas mehr als 20 Jahren ein Drittel aller Israels als ultraorthodox gelten könnte.
Dabei steht (darauf verweisen Säkulare gerne) bereits im Talmud geschrieben: „Es ist besser, dass ein Mann seinen Lebensunterhalt durch Arbeit bestimmt, die so bitter ist wie die Olive, als den honigsüßen Unterhalt eines anderen zu akzeptieren.“
Sabine Brandes