Ein Datum wie der 11. September: Der schwarze Tag des Kanzlers – eine Rekonstruktion
Es ist ein düsterer Tag für Kanzler Scholz. Putins Krieg stellt alles in Frage. Merkels frühere Verteidigungsministerin sagt: "Wir haben historisch versagt."
Olaf Scholz kommt ganz in schwarz, so wie auch Annalena Baerbock. Dieser Krieg stand nicht im Koalitionsvertrag, im Prinzip kann die gerade erst gebildete Koalition gleich neue Verhandlungen beginnen. Denn dieser 24. Februar 2022 ist ein Einschnitt wie mindestens der 11. September 2001.
Der Kanzler wird früh geweckt an diesem Tag. Schon um 6.30 kommt sein erstes Statement, schriftlich. „Dies ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine und ein dunkler Tag für Europa.“ Für 10 Uhr lässt Scholz sein Sicherheitskabinett einberufen, dazu gehören unter anderem Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD).
Alle sind fassungslos, man hat Wladimir Putin viel zugetraut, hatte aber Hoffnung, dass das Schlimmste ausbleibt, da die ukrainischen Truppen sich nicht zu Provokationen hinreißen ließen in den letzten Tagen.
Es steht nun alles in Frage – die Sicherheitsarchitektur ist zerstört, die Bundeswehr aber nur bedingt abwehrbereit. Die Energieversorgung muss verändert, die Abhängigkeit von russischem Gas drastisch reduziert werden. Nord Stream 2 wird wohl niemals kommen, eine knapp zehn Milliarden Euro teure Investitionsruine auf dem Boden der Ostsee.
Über eine Million Flüchtlinge erwartet
Nach Behördenschätzungen werden in einem Szenario zwischen 1,2 bis 1,4 Millionen Ukrainer erwartet, die auch nach Deutschland flüchten könnten. Zunächst wird besonders Polen betroffen sein. „Wir werden (...) vor allem unser Nachbarland Polen massiv unterstützen, sollte es zu großen Fluchtbewegungen kommen“, sagt Ministerin Faeser.
[Verfolgen Sie die aktuellen Entwicklungen zur russischen Invasion in der Ukraine in unserem Liveblog.]
Als Scholz nach der Sitzung des Sicherheitskabinetts im schwarzen Anzug und mit schwarzer Krawatte an das Pult mit dem Bundesadler im Kanzleramt tritt, ist ihm die Erschütterung ins Gesicht geschrieben, mit so einer Herausforderung war auch sein Vorbild Helmut Schmidt nicht konfrontiert. Im Kalten Krieg galten zumindest noch bestimmte Spielregeln.
Der Kanzler sagt: "Das ist Putins Krieg"
„Dieser 24. Februar ist ein furchtbarer Tag für die Ukraine und ein düsterer Tag für Europa“, ist sein erste Satz. Und er, der vor gerade neun Tagen im Kreml noch Hoffnung hatte, sich aber wie so viele geirrt hat in der brachialen Entschlossenheit Putins, macht deutlich, dass er einzig und allein die Schuld trägt. "Das ist Putins Krieg", sagt Scholz. "Putin hat mit seinem Krieg einen schweren Fehler gemacht."
Mit dem Angriff auf die Ukraine breche er „abermals eklatant das Völkerrecht“. Er bringe Leid und Zerstörung über seine direkten Nachbarn, das „Brudervolk Russlands“. Und Scholz betont: „Letztlich stellt er damit auch die Friedensordnung unseres Kontinents in Frage.“
[Alle aktuellen Nachrichten zum russischen Angriff auf die Ukraine bekommen Sie mit der Tagesspiegel-App live auf ihr Handy. Hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen.]
Später schaltet sich Scholz mit den anderen Staats- und Regierungschefs der G7-Gruppe zusammen, er werde sich für eine einheitliche und klare Reaktion der „wirtschaftlich stärksten Demokratie der Welt einsetzen“.
Scholz wendet sich per TV-Ansprache ans Volk - mit besonderer Flagge
Nach der G7-Schalte wird die angekündigte Pressekonferenz abgesetzt, stattdessen wendet sich Scholz in der Abenddämmerung an das Volk, Kanzlerin Angela Merkel hat so eine außerplanmäßige TV-Ansprache erst am Ende ihrer Amtszeit getätigt, bei Scholz ist dies schon am 78. Tag seiner Amtszeit der Fall.
Vor einer Deutschland-, einer Europa- und einer Ukrainefahne, mit dem Bundestag im Hintergrund, sagt er im Kanzleramt: "Gerade erleben wir einen Krieg, wie wir ihn seit 75 Jahren in Europa nicht erlebt haben".
Keine zwei Flugstunden von Berlin entfernt, würden Frauen, Männer und Kinder jetzt in Luftschutzräumen um ihr Leben bangen. "Wir hatten Hoffnung, aber wir waren nicht naiv", sagt der Kanzler und macht klar, dass Deutschland im Falle eines Angriffs auf die Nato-Partner Estland, Litauen, Lettland, Polen oder die Slowakei die Nato-Beistandspflichten militärisch erfüllen werde. Dann wäre es ein ganz großer Krieg in Europa.
Aber Scholz verspricht: Putin wird nicht gewinnen.
Kramp-Karrenbauer: Wir hätten auf Schmidt und Kohl hören sollen - nicht auf Merkel
Eine die an diesem Tag ihre Wut über die Scherben der deutschen Russlandpolitik nicht verhehlen kann, ist die frühere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer.
"Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben. Wir haben nach Georgien, Krim und Donbass nichts vorbereitet (...), was Putin wirklich abgeschreckt hätte", schreibt die CDU-Politikerin bei Twitter. Kramp-Karrenbauer beklag, es seien die Lehren der früheren Kanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl vergessen worden - eine scharfe Kritik auch an Angela Merkel, in deren Amtszeit die Wehrpflicht ausgesetzt wurde und die Bundeswehr jahrelang auf scharfen Sparkurs geschickt wurde. Schmidt und Kohl hätten gewusst, „dass Verhandlungen immer den Vorrang haben, aber man militärisch so stark sein muss, dass Nichtverhandeln für die andere Seite keine Option sein kann.“
Mehr zum russischen Angriff auf die Ukraine bei Tagesspiegel Plus:
- Putins Angriff erzwingt neue Antworten: Der russische Einmarsch ist eine Zeitenwende für Europa (T+)
- Spionagechef, Wirtschaftsboss, Oligarch: Diese Männer gehören zu Putins engstem Kreis (T+)
- Und plötzlich schweigt der Altkanzler: War Schröder nur ein Teilchen in Putins Spiel? (T+)
- Muss Kohle teures Gas ersetzen?: Was die Ukraine-Eskalation für die Energiewende bedeutet (T+)
Die Suche nach der richtigen Reaktion
Nach der Rede ans Volk bricht Scholz auf zu einem EU-Sondergipfel in Brüssel, er will auch einen raschen Nato-Sondergipfel, „in Präsenz“, wie er betont. Putin werde für diese Aggression einen „bitteren Preis“ zahlen. Am Sonntag gibt es eine Sondersitzung des Bundestags mit einer Regierungserklärung des Kanzlers.
Doch können Deutschland und seine Partner mit ihrer wirtschaftlichen Stärke Putin beeindrucken, ihn mit den geplanten harten Finanz- und Wirtschaftssanktionen zum Abzug bewegen, wie Scholz es fordert. Der Sicherheitsexperte Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München hat da so seine Zweifel.
Was Deutschland jetzt machen könne? „Nichts. Keiner kann da jetzt was machen, was eine Veränderung der militärischen Situation herbeiführen würde und keiner wird da aktiv eingreifen“, sagt Masala im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Sanktionen? Russland hat China
Und die harten Sanktionen bis hin zum Finanzsektor? „Putin hat in seiner Rede, wo er im Prinzip die Anerkennung von Luhansk und Donezk ausgesprochen hat, gesagt, sie werden uns sanktionieren, sie hätten uns sowieso sanktioniert und wir sind darauf vorbereitet. Also es wird nichts geben, was dieses Regime überrascht an Sanktionen“, betont Masala. „Wir haben es da nicht mit Idioten zu tun. Die haben ihre Kosten-Nutzen Kalkulation aufgemacht, die wissen, was sie im schlimmsten Falle erwartet.“
Man dürfe nicht vergessen, wie stark sich Russland in die Hände der Chinesen begeben habe in Sachen Handel. „Es gibt immer wieder Informationen, die sagen, die Russen und die Chinesen arbeiten an einer Alternative zum Swift-System. Das ist alles eingepreist“, betont Masala. Die zu erwartenden Gewinne eines aus russischer Perspektive positiven Verlaufes dieses Vorgehens gegen die Ukraine übersteige bei weitem die Kosten, die Sanktionen verursachen werden. „Sonst hätten sie das nicht durchgeführt.“
Die Bundeswehr? "Steht mehr oder weniger blank da"
Nicht an diesem Tage, aber sehr schnell wird es auch darum gehen, wie die Nato und speziell die Bundeswehr ihre Verteidigungsfähigkeit verbessern können. Einem, dem auch an dem Tag der Kragen platzt, ist Heeres-Inspekteur Alfons Mais, er stellt offen die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr infrage.
Er habe nach 41 Dienstjahren in der Armee nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen, betont der Generalleutnant auf der Internetplattform "LinkedIn". „Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“
Die Optionen, die man der Politik zur Unterstützung des Bündnisses anbieten könne, seien extrem limitiert. Man habe es versäumt, sich auf einen solchen Konflikt vorzubereiten und nicht auf die Armee gehört: „Wir haben es alle kommen sehen und waren nicht in der Lage mit unseren Argumenten durchzudringen, die Folgerungen aus der Krim-Annexion zu ziehen und umzusetzen", beklagt er. „Das fühlt sich nicht gut an! Ich bin angefressen!“
[Der tägliche Nachrichtenüberblick aus der Hauptstadt: Schon rund 57.000 Leser:innen informieren sich zweimal täglich mit unseren kompakten überregionalen Newslettern. Melden Sie sich jetzt kostenlos hier an.]
Und so ist es ein Tag des Schocks, der Wut – aber auch ziemlicher Ernüchterung. Das zeigt auch der Auftritt von Außenministerin Baerbock. „Russland allein hat diesen Weg gewählt“, sagt sie. Man habe in den letzten Wochen nichts unversucht gelassen, eine friedliche Lösung zu finden. „Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben nichtgetan, was dieses Blutvergießen rechtfertigt“, sagt Baerbock.
Sie versucht sich vor allem, das wird auch eine Strategie der nächsten Tage sein, an die Zivilgesellschaft in Russland zu wenden. Damit die sich gegen den Aggressor wendet, der diesen Krieg und die Demütigung des Westens wie nach einem Drehbuch mit bizarren Inszenierungen und Scheinverhandlungen wie auch mit Scholz entfesselt hat.
Auch in Russland würden sich viele Menschen schämen, dass das Ansehen Russlands durch diesen „skrupellosen Mord beschädigt“ werde. Und mit Blick auf den Wunsch der Ukrainer von Freiheit und Demokratie sagte sie: „Herr Präsident Putin, diesen Traum werden sie niemals zerstören können.“ Aber alle wissen: Auf die vielen Worte muss nun eine ganze neue, härtere Politik folgen. Sonst werden viele weitere schwarze Tage folgen.