Sexueller Missbrauch: Der Schutz von Kindern verkommt zur Chancen-Lotterie
Die Initiativen zur Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder sind ein Flickwerk. Die Maßnahmen erreichen gerade einmal zehn Prozent der Schulen - und lassen zu viele zurück. Ein Kommentar.
Achtung, aufgepasst! Crystal Meth ist eine extrem bedrohliche Droge. Sie schädigt auch hunderttausende Minderjährige. Daher haben die Behörden beschlossen, an zehn Prozent aller Schulen der Republik Programme zur Prävention zu testen. Mit fünftausend Euro können diese Schulen ein paar Flyer drucken lassen und einige Workshops bezahlen. Die übrigen 27.000 Schulen der Republik sollen solange zusehen, wie sie klarkommen.
Eine Meldung wie diese würde mindestens Irritation auslösen, höchstwahrscheinlich Entsetzen. Warum nicht flächendeckend, bundesweit gegen eine solche Gefahr vorgehen? Ist man so knapp bei Kasse? Worauf noch warten?
Ähnlich lässt es sich fragen, blickt man auf die Initiativen des Bundes zur Prävention sexueller Gewalt gegen Kinder. In jeder Schulklasse, so die offizielle Schätzung, befinden sich jetzt, hier und heute mindestens ein bis zwei Kinder, die, meist im Elternhaus, in ihren Familien, Opfer sexualisierter Gewalt werden. Unlängst startete darum ein Projekt des Bundes mit dem Ziel, „schulische Schutzkonzepte einzuführen und weiterzuentwickeln“. Alle 16 Bundesländer wollen sich daran beteiligen, im Rahmen der Modellprogramme „Kein Raum für Missbrauch“ und „Schule gegen sexuelle Gewalt“ einige „Lehrkräfte zu sensibilisieren“.
Bundesweit sollen zehn Prozent - 3000 von 30.000 Schulen - eine „Anschubfinanzierung von je 5000 Euro erhalten“. In den Genuss der Programme sollen daneben 2000 der 51.000 Kitas kommen – knapp vier Prozent. Welche Schulen in den Genuss der Prävention kommen, sollen die Länder selber auswählen. Dann können diese Schulen ein paar Flyer drucken lassen und für einige Workshops aufkommen. Die übrigen 27.000 Schulen der Republik müssen erstmal zusehen, wie sie klarkommen.
Vor wenigen Wochen hat der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, in Berlin das „Programm zur konsequenten Bekämpfung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und deren Folgen“ für die 19. Legislaturperiode vorgestellt, also für jene vier Jahre, über die die möglichen Jamaika-Koalitionäre gerade verhandeln.
Warum erhalten dann nicht sofort alle Schulen Mittel für die Prävention?
Rörig und sein Team sind engagierte, kundige, wache und dennoch teils unbezahlte, ehrenamtlich arbeitende Leute. Sie verdienen jede Unterstützung. Ihre bescheiden wirkenden Forderungen scheinen allerdings den resignierten Realismus zu spiegeln, mit dem sie auf diese Unterstützung hoffen. Der Titel des UBSKM wurde erdacht, nachdem 2010 der enorme Grad an sexualisiertem Machtmissbrauch an Schulen und Internaten wie dem Canisius-Kolleg oder der Odenwaldschule ins Skandallicht gerückt worden war. „Jetzt handeln!“ lautet Rörigs Leitmotiv. Das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sei „unverändert hoch“, weiterhin bestehe eine „gesamtgesellschaftliche Herausforderung“.
Um ihr zu begegnen, wurde das Kinderportal im Netz www.trau-dich.de ins Leben gerufen, unterstützt vom Bundesfamilienministerium, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und dem UBSKM. Flankiert wird das Portal, das Kindern ihre Rechte erläutert, durch ein Theaterstück mit dem Titel „Trau dich“. Als erstes Bundesland, verkündete Hessen vor kurzem stolz, wurde dort diese „Präventionsmaßnahme dauerhaft etabliert“. Das Flickwerk der vereinzelten Maßnahmen ergibt, was schon der Zufall der Familie, in der jemand aufwächst, für Kindheiten bedeutet: Eine Lotterie der Chancen zum Schutz vor Missbrauch und Misshandlung.
Der jüngste Rörig-Bericht stellt klar: „Nur in Schulen erreichen wir nahezu alle Kinder und Jugendlichen.“ Warum erhalten dann nicht sofort alle Schulen Mittel für die Prävention? Warum die Gewalt-Lotterie Kindheit strukturell nachahmen? Warum nicht unverzüglich hundert Prozent aller Schulen die Mittel zur besonderen Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern zuteilen?
Die nächste Regierung sollte endlich auf die Experten hören, die schon seit längerem Klartext sprechen, auf Leute wie Johannes-Wilhelm Rörig, auf die Kriminalbeamtin Gina Graichen, die Medizinerin Saskia Etzold, auf Juristen wie Christian Pfeiffer und Ludwig Salgo, und auf couragierte Organisationen wie den Deutschen Kinderverein in Essen. Dann könnten auch Institutionen wie das mit Millionen aus Mitteln des Bundestags finanzierte Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) dazu bewegt werden, der Expertise der besten Fachleute Gehör zu schenken, anstatt halbherzig und mutlos am Thema vorbeischlenkernde Projekte aufzulegen. Denn diese Praxis ist bisher leider Teil der traurigen Realität.
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