Kommt der Volksentscheid auf Bundesebene?: Der Ruf nach mehr direkter Demokratie
Können Bürger künftig direkt über Gesetze abstimmen? Wenn es nach CSU und SPD geht, ja. CSU-Innenminister Friedrich und SPD-Fraktionsgeschäftsführer Oppermann wollen am Mittwoch der großen Koalitionsrunde den „Textvorschlag Direkte Demokratie“ vorlegen. Die CDU hält hingegen nicht viel davon, das Volk stärker zu beteiligen.
Kurz nach dem Olympia-Aus in München und dem nur knapp gescheiterten Energie-Volksentscheid in Berlin, klingt das Vorhaben brisant: Im Alleingang haben der amtierende CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich und der SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann einen weitreichenden Vorschlag für bundesweite Volksentscheide formuliert. Die beiden Co-Vorsitzenden der Koalitionsarbeitsgruppe Innen und Recht wollten den „Textvorschlag Direkte Demokratie“ am Mittwoch der großen Koalitionsrunde unter Leitung der Parteichefs vorlegen. Allerdings kann das Ganze auch als Wunschzettel gelesen werden, denn Friedrich und Oppermann wissen ganz genau, dass ihre Position vor der CDU keine Gnade findet.
Wie sieht der Vorschlag aus?
Während in einzelnen Länder-Verfassungen plebiszitäre Elemente verankert sind, sieht das Grundgesetz im Bund nur für den Fall einer Neugliederung von Ländern einen Volksentscheid vor. CSU und SPD wollen bei zwei weiteren Gelegenheiten dem Volk das Sagen geben.
Zum einen bei „europapolitischen Entscheidungen von besonderer Tragweite“, ein altes Anliegen der CSU. „Das gilt insbesondere für die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten, wenn neue Kompetenzen nach Brüssel abwandern sollen oder wenn es um finanzielle Leistungen Deutschlands auf EU-Ebene geht“, heißt es in dem Textvorschlag. Zu Deutsch: All das, was vielen Bürgern am vereinten Europa sowieso nicht passt, sollen sie verhindern können. Der Erfolg einer Partei wie der „Alternative für Deutschland“ zeige, wie nötig es sei, Euroskeptiker einzubinden, lässt die CSU verlauten.
Der andere Vorschlag betrifft die Bundesgesetzgebung, er stammt von der SPD. Bereits verabschiedete Gesetze sollen durch ein Referendum rückgängig gemacht werden können. Das müsste demnach entweder der Bundestag mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschließen oder eine Bürgerinitiative, die dafür binnen sechs Monaten nach Verabschiedung eine Million Unterschriften sammelt. Um nicht mit der Verfassung und dem Föderalismus in Konflikt zu geraten, soll bei Gesetzen, denen der Bundesrat zustimmen muss, ein doppeltes Quorum gelten: Nur wenn die Mehrheit der Teilnehmer und eine virtuelle Länder-Bewohnermehrheit ein Gesetz ablehnt, soll es ungültig sein.
Wie reagiert die CDU?
Mit einem Wort: verschnupft. Die CSU habe ausschließlich die Europawahl im Frühjahr im Blick und die SPD „nicht die nächsten vier Jahre, sondern die nächsten vier Wochen“ bis zu ihrer Mitgliederbefragung, schimpft ein Führungsmitglied. Die CDU sprach in einer internen Runde kurz über die Volksbeteiligung. Ergebnis: Sie bleibt bei der Ablehnung. Selbst die niedrigschwelligste Form – eine Volksinitiative für einen Gesetzentwurf – soll nicht verfolgt werden aus Sorge vor einem Überbietungswettbewerb an Volksnähe, den, so die Einschätzung führender Christdemokraten, sowieso immer nur Linke, Grüne und außerparlamentarische Populisten gewinnen können. Kanzlerin Angela Merkel teilt diese Haltung. Die CDU-Chefin steht der Volksbeteiligung auf Bundesebene seit langem skeptisch gegenüber. „Wir werden dem Vorschlag nicht zustimmen. Demzufolge wird die nächste Koalition dies auch nicht einführen“, sagt CDU- Fraktionsvize Günter Krings.
Dafür gibt es aus Sicht der Christdemokraten sehr gute Gründe. „Hoch populär“ sei der Ruf nach mehr direkter Demokratie im Bund, sagt der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach – aber auch „hoch problematisch“. Das gilt schon fürs Grundsätzliche. Selbst wenn solche Instrumente nicht von Populisten oder mächtigen Einzel-Interessengruppen für ihre Zwecke missbraucht würden, drohe den gewählten Parlamenten der Verlust ihrer Politikfähigkeit. „Die Arbeit der Parlamente wird delegitimiert“, warnt Bosbach. Selbst wenn faktisch nur wenige Vorhaben dem Volk zur Entscheidung vorgelegt würden, bekämen alle anderen Beschlüsse von Bundestag und Bundesrat fast automatisch das Etikett „nicht so wichtig“ aufgedrückt. Umgekehrt drohe schlimmstenfalls eine Art vorauseilende Selbstzensur. Vom Euro bis zur Rente mit 67, vermutet ein CDU-Präsidiumsmitglied, hätte kaum eine der Weichenstellung der jüngsten Zeit vor den Zeitgenossen Bestand gehabt – also wären sie womöglich gar nicht erst gefallen.
Aber schon weit unterhalb dieser Grundsatzfragen lauern knifflige Probleme. Bosbach fragt: Wenn das Volk über ein Gesetz entschieden hat, muss dann selbst über kleinere Änderungen an diesem Gesetz nicht logischerweise auch wieder das Volk entscheiden?
Vollends schwierig wird es bei Europa. Er finde den Gedanken unmöglich, bei einer Beitrittsentscheidung „Wahlkampf über ein anderes Land“ zu führen, sagt der Europapolitiker Elmar Brok. Auch andere CDU-Europaexperten warnen vor einer „Stunde der Populisten“ und davor, die Bundesregierung in Brüssel praktisch handlungsunfähig zu machen.
Welche Erfahrungen hat Deutschland bisher mit Volksentscheiden gemacht?
Der Vorschlag fällt in eine Zeit, in der Volksentscheide auf Landes- und Kommunalebene ein großes Thema sind. Am Wochenende scheiterte die Bewerbung Münchens für Olympia 2022 an einem Votum der Bürger. Mit einer solchen Front der Ablehnung hatten Politiker und Sportfunktionäre nicht gerechnet. Nun geht die Angst um, in Deutschland könnten Olympische Spiele oder auch andere Großprojekte in Zukunft nicht mehr mehrheitsfähig sein. Die Stadt München hat auch in der Vergangenheit schon Erfahrungen mit Bürgerentscheiden gemacht, die die Politik vor Herausforderungen stellten: Im Juni 2012 beispielsweise stimmte eine Mehrheit gegen eine dritte Landebahn am Flughafen Franz Josef Strauß.
In Berlin scheiterte Anfang November ein Energie-Bürgerentscheid knapp am erforderlichen Quorum von 25 Prozent. Zwei Jahre zuvor hatten die Initiatoren des Volksentscheids zur Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner Wasserbetrieben mehr Erfolg: Das Quorum wurde erreicht, die Mehrheit stimmte mit Ja. Auch über das Schulfach Religion wurde 2009 schon abgestimmt. Im Energiebereich gab es ein erfolgreiches Vorbild: Ende September sprachen sich die Hamburger mehrheitlich für einen Rückkauf der Energienetze durch die Hansestadt aus. Eine der spektakulärsten Abstimmungen war die zum umstrittenen Bahnhof Stuttgart 21im November 2011. Hier waren zwar viele Stuttgarter gegen die Verlegung des Bahnhofs unter die Erde, doch die Mehrheit der Baden- Württemberger dafür. In Bayern erzwang eine Initiative in diesem Jahr einen Umschwung: Im April stimmte die Mehrheit für eine Abschaffung der Studiengebühren.
Manchmal müssen Volksentscheide auch gar nicht zu Ende geführt werden, um erfolgreich zu sein: Das erste erfolgreiche Volksbegehren in Brandenburg in 23 Jahren – eine Unterschriftensammlung mit 106 000 Stimmen für ein Nachtflugverbot am zukünftigen Flughafen BER – schloss sich der Landtag in einem fast einstimmigen Beschluss an. Er ließ es gar nicht mehr zur Abstimmung kommen.