Giftanschlag gegen Ex-Agent Skripal: Der Rechtsstaat darf nicht wegen Russland einknicken
Für eine Beteiligung Russlands am Giftanschlag gibt es starke Indizien, aber keinen Beweis. Großbritannien und seine Verbündeten dürfen die Lage daher nicht weiter eskalieren lassen. Ein Kommentar.
Diese Feindbilder haben einen unglaublichen Überlebenswillen: das vom eiskalten Russland auf der einen Seite. Und auf der anderen das vom unterkühlten Westen, der die warme russische Seele verletzen will. Das unterscheidet Konflikte mit Russland von vielen anderen.
Bei einem Anschlag wie dem auf den früheren Agenten Sergej Skripal und seine Tochter in Südengland spielen solche Feindbilder heftig mit. Dabei helfen jedoch vor allem die eigenen Maßstäbe. Die britische Regierung kann sie sich genauso bewusst machen wie ihre Verbündeten. Großbritannien will seine Offenheit verteidigen. Symbol dieser Offenheit ist London als globale Stadt, hier werden 300 Sprachen gesprochen, hier können alle zusammenleben (die es sich leisten können). Wer in Großbritannien wohnt, schätzt einerseits die Freiheit – aber auch den Rechtsstaat. Genau um den geht es jetzt. Zum Rechtsstaat gehört die Beweisaufnahme vor der Verurteilung. Und schon wird es in diesem Fall schwierig.
Der Beweis wird vielleicht nie auftauchen
Die Indizien sprechen gegen Russland. In der Sowjetunion wurde das Gift für den Anschlag auf Skripal einst entwickelt. Von dort kommt das Wissen, wie es angewendet wird. Einen Beweis aber für eine russische Täterschaft, für einen Mordauftrag aus Russland, gibt es nicht. Und dass dieser Beweis jemals auftaucht, ist derzeit kaum vorstellbar.
Die britische Premierministerin Theresa May musste sich also entscheiden. Die Verteidigung der Freiheit und gleichzeitig der Rechtsstaatlichkeit – das geht nicht einwandfrei zusammen. All das Geheimdienst-Geraune erschwert es zusätzlich. Wofür May, und auch Partnerländer wie Deutschland, die russische Führung auf jeden Fall guten Gewissens verurteilen können, ist für deren nicht wahrgenommene Verantwortung. Das Gift ist nicht im Giftschrank verschlossen geblieben, nicht rechtzeitig vernichtet worden. Fahrlässigkeit mit auf eigenem Territorium entwickelten Kampfstoffen ist also das Mindeste, wofür die russische Politik schuldig gesprochen werden kann.
Russland beansprucht zu recht eine herausragende Rolle in der Weltgemeinschaft. Um diese Rolle auszufüllen, muss Russland auch seinen Kooperationswillen zeigen. Und hier die Bereitschaft zur Aufklärung. Angesichts der Schwere des Vorwurfs reicht ein mit lässiger Geste vorgetragenes „Zeigt erstmal her, was ihr da gefunden habt“, nicht aus. Vor allem nicht nach der Vorgeschichte mit ehemaligen russischen Agenten und Regimegegnern, die unter rätselhaften Umständen ums Leben gekommen sind.
Boykott der Fußball-WM? Nicht so voreilig
Jeder weitere Schritt will nun vernünftig abgewogen sein. Und auch jedes Wort. Großbritannien, die USA als sein großer Verbündeter und Russland stecken jedenfalls gerade in einer Eskalationsspirale, aus der sie nur schwer wieder herauskommen. Das gegenseitige Aufrechnen von bisher begangenen Verletzungen des Völkerrechts bringt jedenfalls genauso wenig wie ein voreilig beschlossener Boykott der Fußball-WM in Russland. Das bedeutet nicht, dass Russland bei einer Verdichtung der Beweislage nicht noch weit härter zu sanktionieren wäre als mit der Nicht-Entsendung von Fußballteams.
Je enger gerade die britische Regierung beim Einzelfall bleibt, desto geringer die Gefahr einer weiteren Verschärfung des Konflikts. Und desto mehr kann sie sich zugute halten, die eigene Rechtsstaatlichkeit verteidigt zu haben.