Zwischen Weimar und Berlin: Der Rechtsextremismus zeigt sich nicht nur auf der Straße
Die Ausschreitungen rund um den Reichstag haben eine unselige Tradition - auch wenn diese nicht direkt zu den Nazis zurückführt. Ein Gastbeitrag.
Gerhart Baum ist FDP-Politiker und war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister.
Wer von den Ereignissen um und vor dem Reichstag überrascht ist, der hat nicht wahrgenommen, wie stark sich Rechtsextremismus und Angriffe gegen unser „System“, also die Demokratie entwickelt haben. Was wir da sahen, war nur die Spitze des Eisberges. Wir haben allen Anlass, uns mit dem Rechtsextremismus in unserem Lande zu befassen. Berlin ist zwar nicht Weimar – aber es gibt doch ernst zu nehmende Parallelen. Zu nennen ist einmal die AfF, der sichtbare Teil der Rechten.
Als Joseph Goebbels 1928 in den Reichstag einzog – die NSDAP erhielt 2,7 Prozent der Wählerstimmen – erklärte er sinngemäß: Wir werden uns jetzt aus dem Arsenal der Waffen der Demokratie bedienen, um diese mit ihren Mitteln zu zerstören. Und das geschah dann ja auch. Und nun sitzt die AfD in fast allen Parlamenten. Das hat es in der Republik bisher nicht gegeben. Nun wird es ihr nicht gelingen, die Demokratie zu zerstören, auch wenn sie den Ungeist des Nazismus wiederaufleben lässt.
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Sie wehrt sich gegen den Vorwurf des Rechtsextremismus. Aber auf sie trifft zu, was das Bundesverfassungsgericht im Verbotsverfahren von 2017 im Hinblick auf die NPD festgestellt hat: „Sie verfolgt ein rassistisches Konzept der ethnisch exklusiven Volksgemeinschaft, weil sie politische und soziale Rechte auf Menschen beschränken will, die ihrer Ansicht nach deutsch sind. So wollten es auch die Nationalsozialisten.“ Darauf beruft sich heute zu Recht das Bundesamt für Verfassungsschutz.
Ein Prozess bürgerlicher Verrohung
Aber es kommt etwas hinzu. Innenminister Strobl stellte im Verfassungsschutzbericht des Landes Baden-Württemberg im Juni fest: „Die Anschlussfähigkeit rechtsextremer Inhalte an die bürgerliche Mitte“, sei noch nie so groß gewesen wie seit 2015. Dazu gibt es wichtige wissenschaftliche Untersuchungen, so die der Bielefelder Universität unter der Ägide von Wilhelm Heitmeyer. Sie zeigen im Blick von mehr als 10 Jahren , dass in Teilen des Bürgertums ein Prozess der „Verrohung“ stattfindet, ein Prozess der Menschenverachtung.
Es sind Heitmeyer zufolge „autoritäre Versuchungen – ein autoritärer Nationalradikalismus". Liest man Henkel, Lucke, Gauland vor der Flüchtlingskrise, so spürt man dort schon die Verachtung unseres auf Toleranz und Weltoffenheit gegründeten Systems. Das sitzt also tief. Fremdenfeindlichkeit kam als Brandbeschleuniger 2005 dazu, war aber nicht das auslösende Moment.
Der Generalbundesanwalt hat kürzlich bei einer Tagung zum Rechtsextremismus festgestellt, dass die Gefahr aus der Mitte der Gesellschaft kommt. Schon 2006 hat Ralf Dahrendorf diese „Versuchungen der Unfreiheit“ in seinem gleichnamigen Buch beschrieben, also die Aufgabe der Werte der individuellen Freiheit zugunsten der Auslieferung an ein Kollektiv. Das Streben nach nationaler Größe war in der Deutschen Geschichte oft stärker als das Streben nach individuellem Glück. Es war ein langer Weg zur Freiheit.
Natürlich haben wir keine Weimarer Verhältnisse, und die Bundesrepublik wird nicht enden wie Weimar, aber sie könnte sich verändern, und das politische Klima hat sich schon verändert. Es gibt besorgniserregende Parallelen, und die Gefahr lauert nicht nur auf der Straße, sondern auch in unserer Gesellschaft. Sie lauert im Bürgertum, an dessen Versagen Weimar letztlich gescheitert ist, nicht an den radikalen Rändern.
Zweifel und Ratlosigkeit wachsen
Es gab, solange ich Politik verfolge, immer rechtsextreme Strömungen und Parteien. Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in Deutschland waren aber noch nie so stark wie heute. Dazu tragen die Umbrüche dieser Zeitenwende bei, die nicht nur durch die Pandemie bestimmt wird. Es ist die digitale Revolution, die eine Globalisierung ungeahnten Ausmaßes in Gang gesetzt hat. Es wachsen Zweifel und Ratlosigkeit – Zweifel an der Verlässlichkeit und an den Kontrollmöglichkeiten weltweiter Prozesse.
Es wachsen berechtigte Zweifel an der Durchsetzung des Primats der Politik. Die kaum zu bändigenden Möglichkeiten des Internets begünstigen extreme Denk- und Verhaltensweisen. Erregung und Verschwörungstheorienflammen auf. Und dann kommen die Rattenfänger. Sie präsentieren einfache Lösungen, sie operieren mit der Angst, „dem hinterhältigsten Dämon einer freien Gesellschaft“ (Zygmunt Bauman).
Sie nähren die trügerische Hoffnung, mit dem Rückzug in eine heimatliche Idylle, die es so nie gegeben hat, könne man den Gefahren begegnen. Aber in einer Welt, in deren Entwicklung alle eingebunden sind, kann es nur kosmopolitische Antworten geben. Und diese Zweifel werden durch das Internet tausendfach verbreitet und genährt. Jetzt werden sie verstärkt durch den Schock der Pandemie. Wir sind uns dessen bewusst geworden , dass wir Teil einer weltweiten biologischen Schicksalsgemeinschaft sind.
Das Verhältnis der Deutschen zum Rechtsextremismus ist durch unsere Vergangenheit bestimmt. Ein ganzes Volk hatte sich einer Verbrecherclique ausgeliefert, die einen Weltenbrand entfesselt hat. Das unterscheidet uns von anderen Ländern. Nur im Bewusstsein dieser Vergangenheit sind wir in glaubwürdiger Weise politisch handlungsfähig. Nur so konnten wir unseren Beitrag für ein freies Europa leisten, in dem Deutschland wiedervereinigt wurde.
Erinnerungskultur ist unentbehrlich
Gerade deshalb ist unsere Erinnerungskultur so wichtig. Es ist unerträglich zu sehen, wie sie herabgewürdigt wird. Gerade deshalb können wir mit denen, die das nicht begreifen, keine gemeinsame Sache machen. Wie dünn das Eis ist, hat Thüringen gezeigt. Die Furcht vor einer hochgespielten linken Gefahr war stärker als die Ablehnung einer AfD-Unterstützung. Wieder einmal in der Nachkriegsgeschichte war man weniger kritisch gegen rechts als gegen links.
Das alles sollte uns bewusst sein, wenn wir einzelne Vorfälle beurteilen wie jetzt die vor dem Reichstag. Sie haben mich empört, aber nicht überrascht. Hüten wir uns, nur die Oberfläche zu sehen. Vieles liegt in der deutschen Geschichte, an den Schwierigkeiten, die die Deutschen mit der Demokratie hatten und in den gärenden Veränderungsprozessen dieser Tage.
Das alles veranlasst mich, von einem Hauch von Weimar zu sprechen, der über der Republik liegt. Es ist an uns, dass er verschwindet. Es gilt heute für diese Feinde der Demokratie was Thomas Mann zu den Nazis gesagt hat: „Sie haben die unglaubliche Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln.“
Nicht nur der Extremismus ist zu bekämpfen. „Viele Menschen sind innerlich ausgewandert, fühlen sich vergessen, abgehängt und haben Angst vor Abstieg und Ächtung“ (Heitmeyer). Wir haben es mit Ängsten zu tun. Das heißt: Politik muss in diesen unsicheren Zeiten Orientierung geben, Vertrauen stiften, Zusammenhalt fördern.
Gerhart Baum