Tausende auf der Flucht: Der Osten der Ukraine im Ausnahmezustand
Die Lage von Zivilbevölkerung und Wirtschaft in der Ukraine wird immer schlechter. In vielen Städten gibt es kein Wasser mehr. Zehntausende fliehen.
Grenzposten werden geräumt, die Versorgung mit Wasser und Strom ist in vielen Städten eingestellt oder stark eingeschränkt, immer mehr Menschen verlassen die Regionen Donezk und Lugansk. Die Lage im Osten der Ukraine ist außer Kontrolle geraten. In der Region Lugansk wurde an acht Grenzposten die Arbeit eingestellt, meldet das ukrainische Innenministerium. Man habe nicht länger für die Sicherheit der Grenzsoldaten garantieren können. Auch Russland hat mittlerweile reagiert und verhängte in 15 Städten und vier Landkreisen zur Grenze an der Ukraine den Ausnahmezustand. Die russischen Behörden geben als Grund die hohe Zahl von Flüchtlingen an, die vor allem aus der Region Lugansk nach Russland kämen.
Wirtschaftsprofessor sieht die Region am Rande des Zusammenbruchs
Kiew bestreitet Massenfluchten. Zwar gebe es viele Flüchtlinge, die meisten wendeten sich jedoch Richtung Kiew oder Westukraine. Ein Verein mit dem Namen „Union der Vertriebenen“ hat am Donnerstag auf einer Pressekonferenz behauptet, dass bereits 70 000 Menschen aus dem Donbass geflohen und bis Ende Juni mit 100 000 zu rechnen sei.
Die Lage der Menschen ist schwierig. Am Donnerstag waren fünf Städte ohne Wasser und Strom, darunter die seit Tagen schwer umkämpften Städte Slowjansk und Kramatorsk. Dort sind die Leitungen bereits vor Tagen zerstört worden. Doch die Versorgungslage ist auf für Menschen in vielen anderen Städten desolat, weil weder Renten und Sozialleistungen ausgezahlt werden. Der Flugverkehr im Donbass ist eingestellt. Viele Firmen schicken ihre Angestellten in Zwangsurlaub.
„Die Wirtschaft der Region befindet sich am Rande des Zusammenbruchs“, warnte Wirtschaftsprofessor Juri Makogon von der Universität Donezk in einem Interview. Vor allem jene Industriezweige, die das Rückgrat der ukrainischen Wirtschaft darstellen, sind von der Krise betroffen. „Ob und wann sich der Maschinenbau, die Metallurgie und die Stahlbranche wieder erholen, kann keiner abschätzen“, sagte der Professor.
Währenddessen gibt es Gerüchte darüber, dass der Flughafen von Lugansk mutwillig zerstört wurde. Der Fraktionschef der früheren Regierungspartei „Partei der Regionen“, Alexander Jefremow wird beschuldigt, den Flughafen-Manager damit beauftragt, die Navigationssysteme zu zerstören und die Landebahn aufreißen zu lassen. Der ukrainische Interimspräsident Alexander Turtschinow hat eine Untersuchung der Vorgänge angeordnet. Der Airport von Lugansk ist derzeit außer Betrieb.
Die Ukraine setzte lange auf Abrüstung
Der Donbass scheint führungslos. Medien berichten, dass sich sowohl Sergej Taruta, der Gouverneur von Donezk, als auch der Multimilliardär Rinat Achmetow seit dem 25. Mai in Kiew aufhalten. Achmetow soll ein Schloss in einem Nobelvorort bewohnen. Journalisten hätten beobachtet, wie der reichste Mann der Ukraine morgens in sein Büro in der Innenstadt gefahren werde und am Abend wiederkomme.
Die größte Tageszeitung Segodna beschreibt die Situation auf vielen Bahnhöfen in der Ostukraine als „chaotisch“. Eine ungewöhnlich große Anzahl an Passagieren sei unterwegs, berichten Zugbegleiter. „Viele Menschen haben großes Gepäck dabei, es reisen ganze Familien“, schreibt die Zeitung. In den Zügen gebe es keine freien Plätze. Vor allem die Zugverbindung aus der Hafenstadt Mariupol im Südosten nach Kiew sei derzeit begehrt. Der tägliche Zug habe immer Verspätung, weil der über Slowjansk und Kramatorsk verkehre, wo seit Wochen gekämpft wird. Wer aus dem Zug schaut, nimmt die vielen Militärfahrzeuge wahr, immer wieder tauchen am Himmel Kampfflugzeuge oder Hubschrauber auf. Trotz der gefährlichen Route ist der Zug auf Tage ausgebucht. Die Eisenbahngesellschaft überlegt, den Verkehr Ende Juni einzustellen. Ab Mitte Juni soll der Kartenvorverkauf ausfallen.
Immer lauter werden die Fragen, wieso der Militäreinsatz bisher keine Erfolge gebracht hat. Die Ausrüstung, Motivation und Ausbildung der ukrainischen Soldaten lässt nach Ansicht westlicher Militärexperten zu wünschen übrig. Jahrelang hätten die Regierungen die Armee vernachlässigt, keiner habe ernsthaft mit einem Überfall Russlands gerechnet, von internationaler Seite wurde der Ukraine Abrüstung empfohlen.
Verheerend ist ein Bericht der liberalen Internetzeitung „Ukrainiska Prawda“ aus einem Hospital für Soldaten. Ein junger Mann, der sich Vitali nennt, berichtet, er sei an die Front nach Kramatorsk geschickt worden, obwohl er aus der Armee hätte entlassen werden müssen. Der Bus, der sie in die Industriestadt bringen sollte, wurde beschossen, seit Anfang Mai liegt der 22-Jährige mit mehreren Bauchschüssen im Krankenhaus. Seinen Nachbarn Iwan hat es noch schlimmer getroffen. Der Student ist am 12. Mai mobilisiert worden. Er kann derzeit nicht laufen. „Ich bin ein Krüppel, glauben Sie mal nicht, dass der Staat eine Entschädigung zahlt.“