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Staatsversagen im Libanon. Weil Verträge mit Entsorgungsunternehmen ohne Ersatz ausliefen, türmt sich in den Straßen von Beirut der Müll.
© Mohamed Azakir/Reuters

Flüchtlinge: Der Nahe Osten zerfällt, Europa schaut hilflos zu

Regierungsversagen überall: Die Krise im Irak und in Syrien ist auch die Krise der EU - und die ist angesichts der steigenden Zahl der Flüchtlinge ratlos. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Martin Gehlen

Aus dem nahöstlichen Polit-Kalender der letzten Tage: In Kairo wird die Besiegelung einer gemeinsamen arabischen Eingreiftruppe gegen den „Islamischen Staat“ in letzter Minute abgesagt und auf unbestimmte Zeit verschoben. Im Irak protestieren Zehntausende auf den Straßen, entnervt von quälenden Stromausfällen, der verrotteten Infrastruktur und der hemmungslosen Korruption ihrer politischen Klasse. Im Libanon ist es nicht der Strom, sondern der stinkende Müll, der die Menschen zu einem Generalaufstand gegen Dauerversagen und Selbstbedienungsmentalität der Herrschenden treibt. Saudi-Arabien und die Emirate bomben derweil den Jemen, das Armenhaus der arabischen Welt, in Grund und Boden. Die Türkei bombt ebenfalls, gegen die PKK und damit ausgerechnet gegen die einzigen militärischen Bodenkräfte, die bisher den IS-Gotteskriegern die Stirn bieten konnten. Und das Pentagon lässt kleinlaut untersuchen, ob die offizielle Erfolgsbilanz der seit einem Jahr geflogenen 6000 Luftangriffe frisiert worden ist.

Libanon, Irak, Syrien, Ägypten - wo man auch hinschaut, sieht man ein völliges Versagen der Regierungen

Es braucht keine übersinnlichen Fähigkeiten, um zu erkennen: So ist das „Islamische Kalifat“, das mittlerweile eine Ausdehnung der Größe von Großbritannien hat, nicht zu zerstören. Stattdessen etabliert sich Abu Bakr al Baghdadis teuflische Diktatur im Namen Allahs mehr und mehr als Konstante auf der nahöstlichen Landkarte. Der bisherige Staat Irak ist bereits Geschichte, zerfallen in einen schiitischen, kurdischen und sunnitischen Sektor, in dem sich der IS fest verankert hat. An eine Rückeroberung der einstigen Saddam-Hochburg Mossul ist nicht zu denken, auch weil ein beträchtlicher Teil der Ex-Baathisten mit den Kalaschnikow-Islamisten gemeinsame Sache macht. Beim Nachbarn Syrien hat der hektische diplomatische Reiseverkehr zwischen Moskau, Washington, Teheran und Riyadh nach dem Fall von Palmyra vor allem das Ziel, dem Assad-Regime ein Restterritorium zu sichern und den totalen Zusammenbruch des Staates abzuwenden, der dem IS Tür und Tor nach Damaskus öffnen würde.

Derweil zertrümmern die Kommandos des selbst ernannten Kalifen al Baghdadi das Gesicht des Orients, sodass es bald nicht mehr wiederzuerkennen sein wird. Das polyglotte Menschheitserbe mit seinem religiösen und ethnischen Reichtum, seiner babylonischem Sprachenvielfalt und seiner jahrtausendealten Multikultur geht zugrunde. Minderheiten, deren der IS habhaft werden kann, werden vertrieben, gequält und ermordet.

Kein arabischer Staatschef besitzt internationales Format. Nirgendwo hat sich eine stabile Demokratie herausgebildet

Parallel zu diesem Frevel vollzieht sich das Fiasko des arabischen Staatengefüges. Die Auflösung der Grenzen ist in vollem Gange. Ein Drittel der Arabischen Liga sind gescheiterte Staaten, ein Drittel ist schwach und schwankend, ein Drittel hyperautoritär. Kein arabischer Staatschef besitzt internationales Format. Nirgendwo hat sich eine stabile Demokratie, geschweige denn ein tragfähiger Sozialstaat herausgebildet. Nirgendwo existiert eine moderne Vorstellung von ziviler Partizipation und mündigem Bürgertum – und das in einer Region, in der gut die Hälfte der 280 Millionen Einwohner jünger als 30 Jahre ist. Kein Wunder, dass sich immer mehr aufmachen nach Europa, weil sie ihr Leben retten und ihrer Existenz eine Perspektive geben wollen. Und so ist, was sich gegenwärtig an den EU-Grenzen und Auffanglagern abspielt, wohl erst der Anfang. Mit den Flüchtlingszahlen aber steigt die Ratlosigkeit der Europäer über ihre fernen nahöstlichen Nachbarn. Positive Kräfte, die das Blatt wenden könnten, sind nicht in Sicht. Stattdessen spielen die arabischen Eliten dem „Islamischen Staat“ weiter in die Hände.

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