Türkei lässt Bürgermeister festnehmen: Der nächste Schlag im Kurdenkonflikt
Die türkische Justiz lässt die Bürgermeister von Diyarbakir festnehmen – das stellt eine neue Eskalation im Konflikt mit den Kurden dar. Vor dem Rathaus kam es zu heftigen Auseinandersetzungen.
Sieben Wochen nach der Amtsenthebung von zwei Dutzend gewählten Bürgermeistern im Südosten des Landes hat die türkische Regierung auch die größte Stadt der Kurden ins Visier genommen. Mit großem Polizeiaufgebot wurden am Dienstagabend die beiden Oberbürgermeister von Diyarbakir festgenommen, Gültan Kisanak und Firat Anli.
Am Mittwoch kam es zu heftigen Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei. Vor dem Rathaus von Diyarbakir versammelten sich mehrere hundert Demonstranten. Sie riefen: "Der Druck wird uns nicht einschüchtern." Die Polizei ging mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Einige Teilnehmer bewarfen die Beamten mit Steinen, wie ein Korrespondent der Nachrichtenagentur AFP berichtete.
Aus Sicherheitskreisen verlautete, mindestens 25 Demonstranten seien in Gewahrsam genommen worden. Das Büro des Gouverneurs von Diyarbakir erklärte, jegliche Demonstrationen seien "ungesetzlich", da öffentliche Versammlungen in der Stadt seit dem 15. August untersagt seien. In Istanbul und anderen türkischen Städten gab es am Mittwoch ebenfalls Protestaktionen
Bereits seit dem Morgen war in Diyarbakir der Zugang zum Internet gesperrt, wie der AFP-Korrespondent berichtete. Nach Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Dogan war auch in anderen Städten im Südosten und Osten der Türkei, darunter Batman, Van, Elazig, Gaziantep und Kilis, das Internet nicht zugänglich.
Den zwei führenden Politiker der prokurdischen Minderheitenpartei HDP wird Unterstützung der Untergrundarmee PKK vorgeworfen. Diese gilt in der Türkei wie in der EU als Terrororganisation. Die HDP, die im türkischen Parlament drittstärkste Kraft nach den regierenden Konservativ-Religiösen und den oppositionellen Sozialdemokraten ist, sprach in einer ersten Reaktion von einem Krieg der Regierung in Ankara gegen die Demokratie.
Die Staatsanwaltschaft in Diyarbakir bezog sich in ihrer Mitteilung über die Festnahmen von Kisanak und Anli zunächst nicht auf den Ausnahmezustand, der in der Türkei nach dem gescheiterten Putsch im Juli verhängt worden ist. Mit den rechtlichen Sondervollmachten des Notstands war die Amtsenthebung von 24 HDP-Bürgermeistern Anfang September begründet worden. Auch ihnen wirft die Justiz vor, für die PKK zu arbeiten. Die Bürgermeister wurden durch Verwalter ersetzt, die das Innenministerium ernannte. Die geschah auch im Fall von vier weiteren Bürgermeistern, die wiederum beschuldigt werden, dem Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen anzugehören; drei dieser Bürgermeister gehörten der regierenden AKP an, der vierte den Rechtsnationalisten der MHP. Ob nun auch Kisanak und Anli für abgesetzt erklärt werden, blieb unklar. Sie waren bei den Kommunalwahlen 2014 mit 55 Prozent der Stimmen gewählt worden und teilen sich – wie in der HDP üblich – der Gleichberechtigung wegen das Amt.
Die Justiz wirft Kisanak sowohl Mitgliedschaft in der PKK als auch in der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) vor, die als politischer Arm der Untergrundarmee gilt. Anli soll sich wegen Untergrabung der Staatsgewalt verantworten; er war bereits drei Jahre wegen Mitgliedschaft in der KCK in Untersuchungshaft und kam 2013 frei. Der türkische Staat wird die beiden Oberbürgermeister wohl auch der Mithilfe an dem Krieg in Diyarbakir beschuldigen, den bewaffnete Jugendliche unter Anleitung der PKK vom Herbst 2015 bis zum Frühjahr dieses Jahres gegen Polizei und Armee führten. Teil der Altstadt von Diyarbakir sind seither weitgehend zerstört.
Kisanak war am Dienstagabend nach ihrer Ankunft auf dem Flughafen von Diyarbakir festgenommen worden. Sie hatte in Ankara vor dem Untersuchungsausschuss des türkischen Parlaments über den Putsch vom 15. Juli ausgesagt. Dabei soll sie auf die ungeklärten Hintergründe für die Massenverhaftungen von angeblichen KCK-Mitgliedern zwischen 2009 und 2012 hingewiesen haben. Mehrere tausend kurdische Kommunalpolitiker, Anwälte, Lehrer, Journalisten und Gewerkschafter waren in jener Zeit ins Gefängnis gesteckt worden. Nach Kisanaks Ansicht arbeiteten Gülen-nahe Staatsanwälte mit der Regierung zusammen. Die hatte 2009 Verluste bei der Kommunalwahl gegen die Kurdenpartei hinnehmen müssen.
Meinungsseite