Global Challenges: Der Mythos von der Thukydides-Falle
Warum die Konflikte zwischen den USA und China nicht zum Krieg führen werden. Ein Gastbeitrag.
Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von den Gastautoren Charles Krulak und Alex Friedman. Charles Krulak ist General a.D. und war Kommandeur der US-Marineinfanterie und Präsident des Birmingham-Southern College. Alex Friedman ist Mitbegründer der Denkfabrik Jackson Hole Economics und war Finanzchef der Bill & Melinda Gates Stiftung. Regelmäßige Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Prof. Jörg Rocholl PhD, Jürgen Trittin, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.
Im Jahr 2034 sind die Vereinigten Staaten und China in eine Reihe militärischer Konflikte verwickelt, die zum Einsatz taktischer Atomwaffen führen. Andere Länder – darunter Russland, Iran und Indien – werden hineingezogen. Plötzlich steht die Welt am Rande des Dritten Weltkriegs. Dieses Szenario wird in „2034: A Novel of the Next World War“ geschildert, einem dystopischen Roman, den der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber Admiral James Stavridis mit Elliot Ackerman verfasst hat. Das Buch reiht sich ein in immer lauter werdende Stimmen, die vor einem fast unvermeidlichen Zusammenstoß zwischen der aufstrebenden und der amtierenden Weltmacht warnen.
Graham Allison von der Harvard University hat dieses Phänomen als Thukydides-Falle bezeichnet. Der griechische Historiker beschrieb jene Konstellation am Beispiel der damaligen Kontrahenten, demzufolge „der Aufstieg Athens und die Angst, die er Sparta einflößte, den Krieg unausweichlich machten“. Es stimmt, dass es im Laufe der Geschichte häufig Krieg gab, wenn eine aufstrebende Macht eine herrschende Macht herausgefordert hat.
Es gibt aber bemerkenswerte Ausnahmen. Ein Krieg zwischen den USA und China ist heute ebenso wenig unausweichlich wie ein Krieg zwischen den aufstrebenden USA und dem untergehenden Britischen Empire vor einem Jahrhundert. Ausgehend vom heutigen Umfeld gibt es dafür vier zwingende Gründe. Vor allem würde jeder militärische Konflikt zwischen den beiden Staaten schnell zum Atomkrieg führen. Die USA befinden sich damit in der gleichen Situation wie gegenüber der Sowjetunion.
Zankapfel Taiwan
Taiwan könnte leicht zur Stolpergefahr dieses Jahrhunderts werden, so wie es die strategisch verletzliche „Lücke von Fulda“ (Fulda Gap) in Deutschland während des Kalten Krieges war. Aber die gleiche Dynamik des „Gleichgewichts des Schreckens“, die den amerikanisch-sowjetischen Konflikt in Grenzen hielt, gilt auch für die USA und China. Und die internationale Gemeinschaft würde alles tun, um sicherzustellen, dass ein potenzieller Atomkonflikt ausbleibt, da die Folgen länderübergreifend sind und – anders als beim Klimawandel – unmittelbar eintreten würden.
Ein Konflikt zwischen den USA und China würde mit ziemlicher Sicherheit eher die Form eines Stellvertreterkrieges annehmen. Jede Supermacht könnte sich in einem innerstaatlichen Konflikt in einem Land wie Pakistan, Venezuela, Iran oder Nordkorea auf eine andere Seite schlagen und eine Kombination aus Wirtschafts-, Cyber- und diplomatischen Instrumenten einsetzen. Wir haben diese Art von Konflikten schon oft erlebt: Von Vietnam bis Bosnien hatten es die USA eher mit Stellvertretern als mit ihrem Hauptgegner zu tun.
Zweitens ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es China historisch gesehen langsam angehen lässt. Die chinesische Militärmacht ist zwar drastisch gewachsen, bleibt aber in fast allen wichtigen Bereichen nach wie vor hinter den USA zurück. Aus diesem Grund wäre es für China in seiner derzeitigen Entwicklungsphase zu gefährlich, es zu einem direkten Konflikt mit den USA kommen zu lassen. Käme es zu einem solchen Konflikt, hätte China kaum eine andere Wahl, als den nuklearen Geist aus der Flasche zu lassen. Wenn wir über Ausgangsszenarien nachdenken, sollten wir daher einem Gedankenspiel, in dem die Chinesen bewusst eine militärische Konfrontation mit Amerika herbeiführen, weniger Gewicht beimessen.
Planung für den Worst Case
Das US-Militär neigt jedoch dazu, für den schlimmsten Fall zu planen und konzentriert sich auf einen potenziellen direkten Konflikt mit China – eine Fixierung mit Anklängen an die amerikanisch-sowjetische Dynamik. Damit steigt das Risiko, von anderen Bedrohungen überrumpelt zu werden. Seit dem Koreakrieg haben sich immer wieder asymmetrische Bedrohungen als besonders problematisch erwiesen. Der Aufbau von Streitkräften, die für den schlimmsten Fall gerüstet sind, ist kein Erfolgsgarant im gesamten Spektrum der Kriegsführung.
Der dritte Grund für die Annahme, dass ein amerikanisch-chinesischer Konflikt vermieden werden kann, ist die Tatsache, dass China bereits Siege im globalen Soft-Power-Krieg verbuchen kann. Allen Anschuldigungen zum Trotz, Covid-19 sei aus einem Labor in Wuhan entwichen, hat China die Pandemie deutlich besser überstanden als die USA. Und mit seiner Neuen-Seidenstraßen-Initiative zur Finanzierung der Infrastrukturentwicklung in der ganzen Welt hat es aggressiv die Lücke genutzt, die die Ausgabenkürzungen der USA während der vierjährigen Präsidentschaft von Donald Trump hinterlassen hat. Die chinesische Führung könnte beim Blick auf den aktuellen Status quo durchaus zu dem Schluss kommen, dass sie auf dem richtigen strategischen Weg ist.
Zu guter Letzt sind China und die USA wirtschaftlich eng verflochten. Trotz Trumps Handelskrieg belief sich der bilaterale Handel im Jahr 2020 auf rund 650 Milliarden Dollar, und China war der größte Handelspartner der USA. Die Lieferketten beider Länder sind umfassend verknüpft, und China hält mehr als eine Billion Dollar in US-Staatsanleihen, von denen es die meisten nicht ohne Weiteres abstoßen kann, um nicht massive Verluste zu erleiden. Allerdings kann die Logik durch eine einzige Handlung und deren unbeabsichtigte Folgen untergraben werden.
Chinas expansionistische Mentalität
Etwas so Einfaches wie eine Fehlkommunikation kann einen Stellvertreterkrieg zu einem Flächenbrand eskalieren lassen. Und wie die Situation in Afghanistan und im Irak zeigt, ist Amerikas Erfolgsbilanz in kriegsgeplagten Ländern nicht gerade ermutigend. China hat seine Interventionen im Ausland unterdessen drastisch ausgeweitet. Aufgrund seiner expansionistischen Mentalität, seines wachsenden Entwicklungshilfeprogramms und des zunehmenden Nationalismus im eigenen Land könnte China nur allzu leicht eine Auslandsintervention starten, die die Interessen der USA bedrohen könnte.
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Vor allem der Einsatz von Cyber-Taktiken könnte konventionelle militärische Kommando- und Kontrollsysteme untergraben und die politische Führung zu schlechten Entscheidungen zwingen, wenn traditionellere Optionen nicht mehr zur Verfügung stehen. Und die chinesisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen könnten an Bedeutung verlieren, vor allem wenn China von einem exportorientierten Wachstumsmodell zu einem Modell übergeht, das auf Binnenkonsum basiert, und wenn die Investitionsströme in beide Richtungen angesichts der bilateralen Spannungen zurückgehen.
Ein „Fehlgriff“ ist immer möglich. Deshalb ist Diplomatie so wichtig. Jedes Land muss seine unabdingbaren nationalen Interessen gegenüber dem anderen Land definieren, und beide müssen die gleiche Frage aus der Perspektive des anderen betrachten. Es mag schwer zu akzeptieren sein, aber die Bürgerrechte in China sind vielleicht kein wesentliches nationales Interesse der USA. Umgekehrt sollte China verstehen, dass die USA sehr wohl wesentliches Interesse an Taiwan haben.
Charles Krulak, Alex Friedman