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Eine Mitarbeiterin arrangiert Schweißdrähte bei Tangshan Kobelco in Tangshan in der nordchinesischen Provinz Hebei. 
© picture alliance/dpa/XinHua

Die Grenzen des Staatskapitalismus: Wie Peking sich verkalkuliert hat

Chinas jüngste Interventionen in der High-Tech-Branche sind gescheitert - und dafür gibt es Gründe. Eine Analyse.

Global Challenges ist eine Marke der DvH Medien. Das neue Institut möchte die Diskussion geopolitischer Themen durch Veröffentlichungen anerkannter Experten vorantreiben. Heute ein Beitrag von Prof. Jörg Rocholl PhD, Präsident der European School of Management and Technology und Vize-Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium. Weitere Autoren und Autorinnen sind Prof. Dr. Ann-Kristin Achleitner, Sigmar Gabriel, Günther H. Oettinger, Jürgen Trittin, Prof. Dr. Bert Rürup und Prof. Dr. Renate Schubert.

Schlechter Staat oder guter Staat? Die traditionelle Antwort im marktwirtschaftlich geprägten Westen fällt einfach aus: Der Staat soll Rahmen und Regeln setzen, innere und äußere Sicherheit gewährleisten, Eigentumsrechte schützen, die öffentliche Infrastruktur zur Verfügung stellen, aber nicht intervenieren. Kurzum: Der Staat soll den Wettbewerb ermöglichen. Er soll sich aber nicht anmaßen, mehr zu wissen als die Wirtschaftenden, die im ständigen Wettbewerb nach Verbesserungsmöglichkeiten suchen und so die Triebfeder für Innovation und wirtschaftlichen Wohlstand sind.

Dieses Grundverständnis wird beim Blick auf China und seinen Staatskapitalismus auf eine harte Probe gestellt. Denn neben die traditionelle Perspektive des marktwirtschaftlichen Denkens tritt hier eine Alternative, die mit der ersten nicht vereinbar scheint: die besondere Rolle des chinesischen Staates, die erst den atemberaubenden Wachstumsprozess bewirkt habe und dessen Garant sei. Nach dem berühmten Bonmot Deng Xiaopings: Es ist egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse.

Der Westen blickt staunend auf Chinas Vorzeigeprojekt

Belege für den ökonomischen Erfolg von Chinas politisch gelenkter Marktwirtschaft gibt es viele, vor allem im Bereich der Infrastruktur. Während Berlin über zehn Jahre brauchte, bis ein neuer Flughafen fertig und betriebsfähig war, stampft China solche Flughäfen in Rekordtempo aus dem Boden. Die schnelle Inbetriebnahme des neuen Flughafens in Peking etwa führte nicht nur chinesische Medien zu der Schlussfolgerung, Berlin könne von Peking lernen.
Genauso blickt der Westen staunend bis ungläubig auf Chinas schnell voranschreitendes Vorzeigeprojekt „Neue Seidenstraße“, nicht zuletzt wegen der geopolitischen Konsequenzen. Die wirtschaftlichen Erfolge gehen aber weit über den Bereich der Infrastruktur hinaus. Man denke nur an Chinas Aufhol- und teilweise Überholprozess in wesentlichen Bereichen von Forschung und Entwicklung. Pekings Ambitionen, zum 100. Jubiläum der Volksrepublik 2049 das wirtschaftlich stärkste Land der Welt zu sein, sieht auch der Westen nicht als grundsätzlich unrealistisch an.

Container mit der Aufschrift "China Shipping" liegen aufgestapelt in einem Containerhafen. 
Container mit der Aufschrift "China Shipping" liegen aufgestapelt in einem Containerhafen. 
© picture alliance/dpa | Ole Spata

Allerdings: In den vergangenen Wochen und Monaten hat sich der Blick auf die „segensreiche“ Rolle des chinesischen Staats geändert, denn die chinesische Führung verstärkt unübersehbar den politischen Druck gerade auf Technologie-Unternehmen. Galten diese lange Zeit als prunkvolles Gegenstück zu den großen US-Technologie-Konzernen und Ausdruck chinesischer Innovationsfähigkeit, so gerät Chinas High-Tech-Branche nun zunehmend in schwieriges Fahrwasser. Dunkle Wolken ziehen über Chinas Wirtschaft.

Bei den Interventionen fehlt das Gesamtkonzept

Die Zahl staatlicher Interventionen in einzelne Branchen, Unternehmen und Geschäftsmodelle ist zu hoch, als dass man sie noch als Einzelfälle bezeichnen könnte. Die Interventionen treffen mittlerweile die Finanzindustrie, Fahrdienstleister, Lieferdienste, Onlinespiele und private Bildungsanbieter. Außerdem sind die Begründungen der jeweiligen Staatseingriffe zu vielfältig, um noch von einer sorgfältig durchdachten und umgesetzten Lenkung sprechen zu können. Die Begründungen reichen von der Wahrung sozialer Stabilität über die Sicherung der Finanzwirtschaft bis zum Datenschutz. Niemand kann den Sinn solcher Ziele grundsätzlich in Frage stellen, aber die geradezu überfallartig anmutenden Interventionen lassen kein Gesamtkonzept erkennen. Stattdessen drängt sich der Eindruck auf: Chinas Führung geht es in Wirklichkeit gar nicht vorrangig um die proklamierten Ziele. Die politische Führung will vielmehr Unternehmen in die Schranken weisen, weil sie ihr zu mächtig geworden sind.

Die Reaktionen der Kapitalseite auf die Interventionen sprechen eine klare Sprache: Die chinesischen Aktienmärkte brachen ein, gerade im Technologiebereich – mit Auswirkungen insbesondere auch auf die USA. Schlimmer noch: Marktteilnehmer fragen sich verstärkt, wie sicher bestehende und künftige Investitionen in chinesische Unternehmen eigentlich noch sind. Sie stellen also ihre gesamte Einstellung gegenüber dem chinesischen Markt in Frage. Entsprechend groß war der Vermögensverlust der gerade noch gefeierten chinesischen Unternehmen. Sie mussten zum Teil binnen weniger Tage Milliardenverluste hinnehmen – eine Entwicklung, die weder für sie noch den chinesischen Staat gut sein kann. Denn die Verluste treten an einem für die weitere Entwicklung der chinesischen Wirtschaft kritischen Punkt ein. Zwar hat Chinas kaufkraftbereinigtes Bruttoinlandsprodukt inzwischen das der USA und Europas überflügelt. Die Volksrepublik ist demnach der größte Wirtschaftsraum der Welt. Anders aber sieht es beim relevanteren Vergleich pro Kopf aus: Hier erreicht die Volksrepublik erst rund 30 Prozent des deutschen Niveaus. Der Aufholprozess ist also in vollem Gange und wird immer stärker von der Notwendigkeit umfassender Innovationen geprägt sein.

Investoren müssen auf die Rahmenbedingungen vertrauen können

Im frühen Stadium dieses Prozesses spielten geringe Produktionskosten eine besonders große Rolle. War es für international tätige Unternehmen günstiger, in China statt in ihren Heimatländern zu produzieren, haben sie dies oft auch mit Blick auf den sich entwickelnden großen Markt getan. Auch für chinesische Unternehmen lohnte es sich, erfolgreiche Produkte und Prozesse aus anderen Ländern zu kopieren und sie im eigenen Markt anzubieten. Doch diese frühe Phase des Aufholprozesses kommt nun langsam an ihr Ende oder ist in verschiedenen Bereichen bereits beendet. Die nächste Entwicklungsstufe wird für Chinas Wirtschaft viel herausfordernder sein: Zunehmend kommt es jetzt auf eigenes Knowhow an, um die nächsten Innovations- und Wachstumsschübe auszulösen. Wissensbasierte neue Produkte und Prozesse aber erfordern massive Investitionen in Forschung und Entwicklung. Dabei wird nicht immer der Staat am besten vorhersagen können, welche Investitionen den größten Markterfolg erzielen werden.

China braucht also große private Investitionen – die aber nur dann zustande kommen, wenn Investoren davon ausgehen können, dass sich die Rahmenbedingungen nicht über Nacht ändern und der Staat die Verteilung möglicher Gewinne nicht plötzlich zu seinen Gunsten verändert. Die jüngsten Interventionen können sich somit als chinesischer Bärendienst erweisen.

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Was bedeutet das alles für den Westen? Zunächst steht das chinesische Beispiel dafür, dass man große Infrastrukturprojekte schneller fertigstellen kann. Das sollte auch unter Wahrung demokratischer Rechte möglich sein. Gleichzeitig ergibt sich die Schlussfolgerung: Abgesänge auf die westliche Arbeitsteilung zwischen Staat und Wirtschaft sind verfrüht. Gerade die Reaktionen auf die massiven chinesischen Interventionen der jüngsten Zeit werfen für die künftige Entwicklung der chinesischen Wirtschaft eine wichtige Frage auf: Ist Chinas Wirtschaft eigentlich dauerhaft erfolgreich wegen der Politik – oder trotz der Politik? Die Antwort hat weitreichende Folgen, auch für das westliche Selbstverständnis.

Jörg Rocholl

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