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In Berlin suchen Eltern oft monatelang verzweifelt nach einem Kitaplatz
© imago stock&people

Lange Wartelisten: Der Kampf um Kita-Plätze in Berlin

Basteln, Renovieren, Gartenarbeit – Eltern tun fast alles, um in Berlin einen Kitaplatz zu ergattern. 28 Kindergärten stehen auf der Liste von Familie Klemm. Sie sagen: "Dieser Wahnsinn hat uns kaputt gemacht."

Am Abend, als Thomas Klemm Frau und Kind verlässt, liegt in der Küche Bambi in Fetzen auf dem Boden. In einer Rotweinlache. Als sei’s sein Blut. Der kleine Niko schreit, Katharina Klemm weint, auf dem Herd kocht das Nudelwasser über. Bevor Thomas Klemm sich ein Hotelzimmer sucht, kauft er beim Späti eine Packung Zigaretten, die erste seit vier Jahren. Zu Hause greift seine Frau zum Handy und ruft ihre Schwester an. „Kannst du vorbeikommen? Ich kann nicht mehr.“

„Der ganze Wahnsinn hat uns echt kaputt gemacht“, erzählt Katharina Klemm zwei Wochen später, als sie jenen Abend schildert. Sie sitzt in ihrem Wohnzimmer in einer Altbauwohnung in Prenzlauer Berg, Niko auf dem Schoß. „Ich weiß, das klingt heftig. Aber es ist die Wahrheit.“ Dabei hätten sie sich beide so gefreut: auf das Elternsein, auf die Elternzeit. „Stattdessen waren die letzten Monate nur Stress. Es gab für uns ja fast nur noch das eine Thema.“

Klemms Thema ist die Suche nach einem Kitaplatz. Sie beginnt im September 2013. Da wird, Anfang September, Nikolas geboren, ein gesunder Junge, 53 Zentimeter lang, 3380 Gramm schwer. Katharina und Thomas Klemms (Namen geändert) erstes Kind. „Wir waren so glücklich“, sagt die 35-Jährige. Katharina Klemm, groß, schulterlanges, blondes Haar, ist Marketingfachfrau in einem mittelständischen IT-Unternehmen. Ihr Mann Thomas, Halbglatze, schwarz umrandete Brille, hat als Grafikdesigner bis vor zwei Jahren in Düsseldorf gearbeitet. Ihre Fernbeziehung stand der Familienplanung lange im Weg. Erst als Thomas eine Festanstellung in Berlin bekommt, wird ihr Traum wahr.

Die Mutter sagt: Wir waren naiv

Niko ist drei Tage alt, als die Klemms anfangen, Kitas zu kontaktieren. Nach einem einfachen Prinzip: Sie lassen sich bei sieben Kitas auf die Warteliste setzen, die ihrer Wohnung nah und ihnen vom ersten Eindruck her sympathisch sind. Grober Einstiegstermin ist bei allen zum 1. August, weil dann die Älteren eingeschult werden, Platzvergabe im Januar. Die Kitas sagen: „Wir melden uns.“ Im Dezember 2013 hakt Thomas Klemm nach, ob sie auch wirklich auf den Listen stehen. „Das hielten wir bereits für sorgfältig“, sagt Katharina Klemm. „Wir waren naiv.“ Als sie am 25. Januar noch keine Nachricht bekommen haben, telefonieren sie die Kitas durch. Keine der sieben ausgesuchten kann ihnen einen Platz anbieten. „Aber in den nächsten Wochen rückt noch viel nach“, tröstet man sie.

Seit August 2013 haben alle Eltern vom ersten Geburtstag ihres Kindes an Anspruch auf einen Kitaplatz. Vorher galt der erst ab dem vollendeten dritten Lebensjahr. Das bedeutet, dass mehr Kinder untergebracht werden müssen. 70 Prozent aller Unter-Dreijährigen in Berlin besuchen eine Kindertagesstätte – fast doppelt so viel wie im Bundesschnitt.

Klemms sehen sich nach weiteren Kitas um, lassen sich bei fünf zusätzlichen auf die Warteliste setzen. Sie beginnen, sich in der Nachbarschaft umzuhören. Und erkennen: Andere gehen bei der Kitasuche deutlich engagierter vor als sie. „Sie müssen schon regelmäßig vorbeischauen“, sagt eine Frau aus dem Nebenhaus. Viele haben Weihnachtskarten an die Kindergärten geschrieben, manche Gebäck vorbeigebracht. „Kommt das nicht ein bisschen komisch rüber?“, fragt Katharina Klemm. „Das machen alle so“, kriegt sie zurück.

Im Februar bittet Katharina Klemm bei den nunmehr 13 Kitas, auf deren Liste sie steht, um Gesprächstermine. Zwei lehnen ab. „Schicken Sie uns einfach eine Mail, dass Sie weiter interessiert sind“, heißt es. Die anderen laden sie zur Elternsprechstunde ein. Die findet bei gleich vier Kitas dienstags von 15 bis 17 Uhr statt. Thomas Klemm nimmt Urlaub, seine Frau und er teilen sich auf. Da werden sie mit anderen Eltern durch die Räume geführt, und am Ende müssen sie sich wieder in eine Liste eintragen. „Sind Sie alleinerziehend?“, fragt eine Kindergärtnerin. „Mein Mann muss arbeiten“, antwortet Frau Klemm. „Das ist sehr schade“, sagt die Angestellte. „Wir wissen gern, mit wem wir es zu tun haben.“

Thomas Klemm sammelt währenddessen eigene Erfahrungen. „Ist Ihnen klar, dass dies ein vegetarischer Kindergarten ist?“, wird er gefragt. Ob sie sich deshalb für die Kita entschieden hätten? Thomas Klemm sagt, seine Frau und er äßen wenig Fleisch. „Aber vor allem suchen wir dringend einen Kitaplatz für unseren Sohn.“ „Ich habe nicht den Eindruck, dass Sie sich mit unserem Konzept zur Genüge auseinandergesetzt haben“, sagt die Mitarbeiterin. „Wir suchen hier Eltern mit Idealen.“ „Da bin ich ausgerastet“, erzählt Klemm. Habe der Frau erklärt, auch er sei der Meinung, dass sein Kind andernorts besser aufgehoben sei.

Im März fertigen Klemms eine Excel-Liste an: mit allen 13 Kitas, bei denen sie angefragt haben. Bald schon werden es 22 sein. Name der Leitung. Ob die Kita persönliche Besuche wünscht oder nicht. Wann sie zuletzt dort waren. Wann sie zuletzt angerufen haben. Welche besondere Ausrichtung die Kita hat, damit sie nicht vergessen, im Gespräch darauf Bezug zu nehmen. „Freut sich über Bastelbeispiele für ihre Mottowoche Märchenwald“, trägt Katharina Klemm Anfang März in die Spalte „Sonstiges“ ein. „Du willst doch jetzt nicht ernsthaft basteln?“, fragt ihr Mann. Katharina Klemm hat Hoffnung geschöpft. Die Kitaleiterin hat durchblicken lassen, dass eine Familie umzieht. Das Bambi ist aus braunem Tonpapier. Für die weißen Flecken hat Katharina Klemm Wattepads zurechtgeschnitten. Die Vorderbeine des Rehs lassen sich bewegen, sind mit Messingklammern am Bauch befestigt.

Thomas Klemm findet das Reh gelungen. Er schickt ein Handyfoto an seinen Freund: „Basteln für einen Kitaplatz“, schreibt er dazu. Und einen Smiley.

Auf dem Fragebogen steht: Liebe Mamis und Papis, was könnt ihr besonders gut?

Die Kita lädt zu einem „weiteren Kennenlernen“. Katharina Klemm geht allein hin, ihr Mann hat eine Präsentation. Auch ein anderes Paar ist geladen. Zum dritten Mal besichtigt Katharina Klemm die Räume. An der Glasscheibe zwischen zwei Gruppenräumen hängt ihr Reh. „Da hat es einen schönen Platz bekommen“, sagt sie. „Nett, nicht wahr?“, sagt die Angestellte. Und an die andere Mutter gewandt: „Den Sitzsack, den Sie gespendet haben, haben wir dort hinten platziert.“

Zu Hause haben Klemms eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Eine Kita bittet um Rückruf. „Da waren wir ganz aufgeregt, wir dachten, das ist es jetzt“, sagt Katharina Klemm. Aber es ist nicht die erhoffte Zusage: Die Kita lädt „interessierte Eltern“ für den übernächsten Samstag zur Gartenarbeit ein.

Leiterin Astrid Bürger kann 90 Kinder in der Kita Oase in Prenzlauer Berg aufnehmen, 400 stehen auf der Warteliste.
Leiterin Astrid Bürger kann 90 Kinder in der Kita Oase in Prenzlauer Berg aufnehmen, 400 stehen auf der Warteliste.
© David Heerde

„Das hat mich bei all dem am meisten überrascht“, erzählt Thomas Klemm. „Was manche Einrichtungen verlangen.“ Es ist Anfang April, draußen ist es warm, der August rückt unaufhörlich näher. Klemm zeigt einen Fragebogen, den eine Kita ihnen mitgegeben hat. Frage 14 von 36: „Liebe Mamis und Papis, was könnt ihr besonders gut? (z. B. Backen, Musizieren oder Renovieren)“. Frage 19: „Unser Kind hat schon – Leerzeichen – ältere Geschwister bzw. – Leerzeichen – Halbgeschwister“. Frage 20: „Sind weitere Geschwister unterwegs oder geplant?“

„Fehlt nur noch die Frage, ob weitere Halbgeschwister geplant sind“, sagt Thomas Klemm. „Aber im Ernst, wofür müssen die das alles wissen?“ Katharina Klemm sagt: „Eigentlich wollen wir in der Kita auch nicht Musizieren oder Renovieren. Wir brauchen ja eine Kita, weil wir schon einen Job haben.“

Der Fragebogen kommt von einer Elterninitiative. Die, haben Klemms gelernt, sind berüchtigt für ihre krassen Auswahlverfahren. „Wir mussten zum Teil richtige Bewerbungsmappen einreichen, inklusive Familienfoto.“ Nach Kindertagesförderungsgesetz haben Eltern die Wahl, ob sie ihr Kind in eine staatliche, kirchliche oder private Einrichtung geben. Gerade in Bezirken wie Prenzlauer Berg und Friedrichshain-Kreuzberg haben sich viele Eltern zu Kita-Initiativen zusammengeschlossen. In Prenzlauer Berg, wo Klemms leben, wurden 2013 laut Senatsjugendverwaltung 7000 Plätze geschaffen.

Einer wäre Klemms genug. Wenn Thomas Klemm von der Arbeit kommt, ist die Kitasuche das Thema. An Wochenenden ist die Kitasuche das Thema. „Wenn Freunde oder Familie angerufen haben, habe ich sie erst mal mit neuen Horrorgeschichten versorgt“, sagt Katharina Klemm. Sie weiß, dass das nur ein Ausschnitt ist. „Der Großteil der Kitas, bei denen wir gewesen sind, war sehr freundlich und korrekt“, sagt sie.

90 Plätze - und 400 Kinder auf der Warteliste

Eine der Kitas, die Katharina und Thomas Klemm angenehm fanden, ist die Kita Oase in der Kastanienallee in Mitte. 90 Kinder kann sie aufnehmen. Astrid Bürger, schlanke Erscheinung, dunkler Pferdeschwanz, leitet dort die Geschäfte seit drei Jahren. In drei breite, tiefe Poäng-Sessel von Ikea können sich die Mütter und Väter bei ihr fallen lassen, wenn sie ihr Glück versuchen. Dahinter ist auf brauner Fläche ein dicker, weißer Baum gemalt. „Jetzt kommen Sie erst mal runter“, sagt Astrid Bürger Eltern, die zum ersten Mal da sind. Und schenkt eine Runde Kaffee aus.

Astrid Bürger und der Träger Pfefferwerk Stadtkultur, der in Berlin 17 Kitas betreibt, fragen nicht nach Halbgeschwistern, Beruf oder Begabungen, wenn Familien sich bewerben. Nur die wichtigsten Eckdaten werden festgehalten, Name, Geburtsdatum, etc. Pro DIN-A4-Blatt ist Platz für acht Parteien. 50 solcher ausgefüllter Listen, auf einer davon steht Niko, hat Astrid Bürger in ihrem Schrank. Viele suchen noch für diesen August, einige schon für das nächste Jahr. Im Großteil der Fälle sind die Kinder noch gar nicht geboren.

Der Vater reißt Bambi in Stücke - die vegetarische Kita geht leer aus

Katharina Klemm hätte das nicht tun wollen: ein ungeborenes Kind anmelden. „Man muss nicht abergläubisch sein, um das seltsam zu finden, oder?“

Mitte April ziehen Klemms Bilanz. 18 Sprechstunden haben sie besucht und zwei Elternabende, zwei Tage der offenen Tür. „Da war es so gerappelt voll, da lagen die Anmeldelisten noch auf dem Klo.“ Thomas Klemm hat einer Kita den Garten umgegraben und seine Frau hat Kuchen für ein Frühlingsfest und das fünfte Jubiläum einer anderen Tagesstätte gebacken.

„Das Einzige, was es uns gebracht hat, ist, dass wir uns mit weiteren Eltern austauschen konnten“, sagen Klemms. Manche aber sind so verzweifelt, dass sie überhaupt nichts mehr preisgeben. Spätestens ab dem 22. April verstehen Klemms das: Da bekommt ein Junge aus der Krabbelgruppe, in die Niko geht, einen Platz bei einer ganz neu gegründeten Kita, von der sie erzählt hatten. „Ich habe da angerufen und gefragt, wie das sein kann, wo wir doch schon viel länger auf der Liste stehen“, sagt Katharina Klemm. „Es geht hier nicht nach ‚Wer zuerst kommt, mahlt zuerst‘“, sagt die Erzieherin. „Wonach dann? Das heißt doch Warteliste.“ – „Wir nennen das Anmeldeliste. Die Auswahlkriterien sind vielseitig.“

Das System ist leicht erklärt. Die Eltern suchen sich die Kitas aus, und die Kitas suchen sich die Kinder aus. Am Ende geht es fast immer irgendwie auf. Forderungen, Kitaplätze wie Schulplätze schlicht nach Einzugsgebiet zu vergeben, lehnt der Staat ab mit der Begründung, der Verwaltungsaufwand sei zu hoch. Weil ja auch nicht absehbar ist, welche Eltern ihr Kind schon früh in die Kita geben möchten. Berlinweit gibt es aktuell sogar ein Überangebot von 5000 Plätzen. Insgesamt gehen 136 692 Kinder in eine Kita, 142 000 Plätze stehen zur Verfügung.

Das Problem ist das „fast“. Dass es Familien gibt, die Pech haben. Familien wie die Klemms. Klemms kennen Eltern, bei denen es auf Anhieb mit der Wunschkita geklappt hat. Andere haben mehrere Zusagen bekommen. Die Klemms zweifeln an sich und ihrem Engagement. Katharina Klemm bastelt drei weitere Bambis, hängt sie frühmorgens an Kitatüren. „Mit lieben Grüßen von der Familie Klemm. Wir sind weiter interessiert. Thomas, Katharina und Niko.“

Am Ende bestimmt der Zufall

Auch jetzt noch, im Mai, klingelt in der Kita Oase jeden Tag das Telefon, stehen Eltern in der Tür, die sich nach ihren Chancen erkundigen. Wenn jemand abspringt – bis vier Wochen vor Aufnahme dürfen Eltern den Vertrag lösen – guckt Astrid Bürger, „dass die Mischung stimmt“. Dass Mädchen und Jungen „halbwegs ausgeglichen“ sind, die Nationalitäten auch. Geschwisterkinder haben Vorrang. „Trotzdem bleiben natürlich meist mehrere Optionen. Ab einem gewissen Grad ist es nur noch Zufall.“

Zurzeit stehen auf der Liste der Klemms 28 Kitas und elf Tagesmütter

Astrid Bürger ist darauf vorbereitet, dass Eltern in ihren Poäng-Sesseln in Tränen ausbrechen oder sie beschimpfen, wenn sie ihnen sagt, dass sie nichts versprechen kann. „Ich verstehe das. Die Eltern stehen enorm unter Druck. Sie haben jedes Recht der Welt, sauer zu sein auf diese Struktur, die keine ist.“

An einem Abend Ende April sagt Katharina Klemm: Es sei ihr egal, ob Niko in eine vegane Kita komme, antiautoritär oder von bibeltreuen Christen erzogen werde. Sie sagt das zu ihrem Mann, der am Küchentisch sitzt, bei einem Glas Wein, gerade hat sie Spaghetti ins Wasser getan. Thomas Klemm erwähnt, die Schwester seiner Exfreundin arbeite in Berlin inzwischen als Tagesmutter. Katharina Klemm findet das eine „Scheiß-Idee“. Und dann streiten sie sich, eine gute halbe Stunde lang, sehr heftig. Am Ende zerreißt Thomas Klemm wütend das Bambi, das seine Frau tagsüber für die vegetarische Kita gebastelt hat, und Katharina Klemm schmettert sein Rotweinglas auf den Boden.

„Ich habe dann vom Hotel aus angerufen und mich entschuldigt“, erzählt Thomas Klemm, der neben seiner Frau auf dem Sofa sitzt. „Noch in der gleichen Nacht bin ich zurück, und gemeinsam mit Katharinas Schwester haben wir Angebote für Tagesmütter ausgedruckt.“ Die Glasscherben sind mit Bambi und den zerkochten Spaghetti in den Müll gewandert. „Wenn wir kein zufriedenstellendes Angebot finden, das wir auch finanzieren können, wenden wir uns an das Jugendamt“, sagt Klemm. Das darf ihnen dann auch einen Platz in einem völlig anderen Bezirk zuweisen.

Eigentlich wollte Thomas Klemm zwei Monate Elternzeit gemeinsam mit seiner Frau nehmen, eine erste Familienreise nach Norditalien war geplant. Jetzt hat das Paar sich entschieden, dass er seine Elternmonate hinten dranhängt an ihre. So bleibt ihnen mehr Zeit für die Suche, für das Abklappern der Liste. Zurzeit stehen 28 Kitas und elf Tagesmütter darauf. Aber es ist ja noch ein bisschen Zeit bis zum 1. August.

Maris Hubschmid

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