zum Hauptinhalt
Außenminister Frank-Walter Steinmeier
© Thilo Rückeis

Interview mit Frank-Walter Steinmeier: "Der IS könnte die ganze Region in Brand setzen"

"Die Welt scheint aus den Fugen geraten": Außenminister Frank-Walter Steinmeier spricht im Tagesspiegel-Interview über den Kampf gegen die IS-Terroristen, das Verhalten der Türkei und den deutschen Beitrag.

Herr Steinmeier, die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten. Eine Krise jagt die nächste, die Auswirkungen von Gewalt und Elend spüren wir auch hier in Deutschland. Können Sie noch ruhig schlafen?

Ich bin froh, wenn ich hin und wieder zum Schlafen komme … Aber Sie haben recht: Die Lage ist beunruhigend, die Welt scheint aus den Fugen geraten. Und die deutsche Außenpolitik ist gefordert wie selten zuvor.

Welche der vielen Krisen halten Sie für die gefährlichste?

Der Konflikt um die Ukraine ist uns geografisch am nächsten. Donezk ist keine zwei Stunden Flug von Berlin entfernt, die Ukraine und Russland sind direkte Nachbarn der Europäischen Union. Wir haben viel investiert, um zu einer Entschärfung des Konfliktes zu gelangen. Die Gefahr einer erneuten Eskalation ist noch nicht gebannt. Auch im Nahen und Mittleren Osten sehe ich große Gefahren auf uns zukommen. Noch nie hat eine islamistisch-terroristische Organisation ein so großes Territorium an sich gerissen. Der sogenannte ‚Islamische Staat‘ will den Konflikt weit über Syrien und den Irak hinaustragen. Die Ordnung ganzer Staaten könnte kollabieren. Es besteht die Gefahr, dass die Terrorbanden die ganze Region in Brand setzen.

Warum schaut die Staatengemeinschaft zu, wie der „Islamische Staat“ an der Grenze zur Türkei die kurdische Stadt Kobane sturmreif schießt?

Die Welt ist nicht tatenlos. Die Amerikaner, mehrere europäische und arabische Staaten fliegen Luftangriffe gegen die Terrormiliz. Deutschland liefert militärische Ausrüstung an die Kurden, um sie in diesem Kampf zu stärken. Der Einsatz militärischer Mittel ist notwendig, muss aber in eine längerfristige politische Strategie eingebunden sein. Auch dafür leistet die deutsche Außenpolitik einen Beitrag.

Welchen?

Wir versuchen, die arabischen Länder, die Türkei und den Iran davon zu überzeugen, dass es notwendig ist, gemeinsam gegen den IS vorzugehen. Dazu müssen alte Feindschaften überwunden werden. Ich fliege heute nach Dschidda, um darüber mit der saudischen Führung zu sprechen. Kobane zeigt aber auch: Die Allianz ist eine notwendige Voraussetzung, um im Kampf gegen den IS voranzukommen. Sie ist keine Garantie dafür, dass dieser Kampf schnell gewonnen ist.

Ist Kobane nicht schon jetzt das Symbol für die Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, den Vormarsch des IS zu stoppen?

Ich hoffe sehr, dass das nicht stimmt. Kobane fügt dem Buch über die syrische Tragödie ein weiteres Kapitel hinzu. Seit mehr als drei Jahren gibt es im syrischen Bürgerkrieg weder eine militärische Entscheidung noch Schritte hin zu einer politischen Lösung. Hunderttausende Menschen sind schon gestorben, Millionen auf der Flucht. Mit militärischen Mitteln versuchen wir den Aktionsraum des IS einzudämmen. Mit der gleichen Kraft müssen wir aber einen neuen Anlauf für eine politische Lösung des syrischen Bürgerkriegs unternehmen.

Reichen Luftangriffe aus, um den Vormarsch des IS zu stoppen?

Es ist ungleich schwerer, in Syrien mit Luftangriffen gegen den IS Erfolge zu erzielen. Im Irak kann man den Verlauf einer Front identifizieren – auf der einen Seite die Terrormiliz, auf der anderen ihre Gegner. Deshalb konnte der Vormarsch des IS dort auch an vielen Stellen gestoppt werden. Dagegen ist Syrien in Kleinstterritorien zerfallen, in denen IS-Milizen aus dicht besiedelten Gebieten heraus operieren. Bei Luftangriffen besteht umso mehr die Gefahr, dass Unbeteiligte getroffen werden. Das macht es so schwierig.

Ist dann nicht der Einsatz von Bodentruppen notwendig?

Kein westlicher Staat ist bereit, mit eigenen Bodentruppen in Syrien einzugreifen. Alle unsere Partner sehen das so. Das Leid der Menschen in Syrien lässt niemanden kalt, auch mich nicht. Aber wir tragen auch Verantwortung für unsere eigenen Soldaten: Wir dürfen junge Menschen nicht in einen brutalen Mehr-Fronten-Krieg schicken, in dem der IS, die Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al Assad und Dutzende weitere Milizen miteinander kämpfen.

Die USA, viele europäische und arabische Staaten fliegen Luftangriffe. Warum nicht Deutschland?

Die Antwort ist einfach: Wir haben früher entschlossen gehandelt als andere. Wir helfen humanitär, wir liefern militärische Ausrüstung an die Kurden im Nordirak. Dieser deutsche Beitrag zum Kampf gegen den IS wird international hoch geschätzt. Wenn ein Dutzend Staaten Luftangriffe fliegen, macht es keinen Sinn, dass Deutschland als dreizehnte oder vierzehnte Nation auch noch mitfliegt. Es ist grundfalsch, die Beteiligung an Luftschlägen zum Gradmesser für internationales Engagement zu machen. Wir brauchen eine vernünftige Arbeitsteilung, es können doch nicht alle Länder das Gleiche machen.

Was halten Sie vom Plan der Verteidigungsministerin, im Nordirak ein Ausbildungslager der Bundeswehr für die Kämpfer der Peschmerga aufzubauen?

Wir sind dabei, die versprochenen Waffen in den Nordirak zu schaffen. Die erste Tranche ist in Erbil angekommen. Auch die Ausbildung ist angelaufen. Mit der Frage, ob wir mehr zur Ertüchtigung der irakischen Sicherheitskräfte tun können, können wir uns dann beschäftigen, wenn wir unsere Zusagen erfüllt haben.

Versagt die Türkei im Kampf gegen den IS-Terror?

Türkische Panzerverbände stehen in Sichtweite von Kobane, greifen aber nicht ein. Versagt der Nato-Partner Türkei im Kampf gegen den IS-Terror?

Ich begrüße, dass Ankara sich der internationalen Allianz gegen den IS angeschlossen hat. Die Türkei liegt mitten im Krisengebiet, hat lange Grenzen mit Syrien und dem Irak. Die Türken haben Millionen von Menschen geholfen, in Flüchtlingslagern wenigstens ihr Leben zu retten. Ich halte es da nicht für ratsam, der Türkei aus der Ferne kluge Ratschläge über das richtige Verhalten zu geben.

Die Kanzlerin hat im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages beklagt, der Nato-Partner setze falsche Prioritäten. Schont die Türkei den IS, um den Kurden zu schaden?

Ich war nicht dabei, als die Kanzlerin das gesagt haben soll. Ich werbe dafür, dass sich die Türkei mit allem Nachdruck am Kampf gegen den IS beteiligt.

Bei den Kurden in Deutschland wächst die Wut, es kam zu Straßenschlachten mit Islamisten. Müssen wir damit leben, dass der Konflikt auch bei uns ausgetragen wird?

Wir teilen den Schmerz der in Deutschland lebenden Menschen, die um Landsleute, Verwandte und Glaubensbrüder in Syrien oder im Irak trauern und wütend sind. Eines muss aber auch klar sein: Wut und Trauer sind niemals eine Rechtfertigung für Gewalt. Deutschland hat am allerwenigsten zur Unordnung in der Region beigetragen. Wir waren nicht beteiligt an der militärischen Intervention im Irak 2003, die schließlich die Region in große Turbulenzen stürzte. Im syrischen Bürgerkrieg und nach dem Vormarsch des IS hat Deutschland vom ersten Moment an umfangreiche humanitäre Hilfe geleistet. Und zur Wahrheit gehört auch: Angesichts der Dimension und der ungeheuren Dynamik dieses religiös überformten Konflikts sind die Möglichkeiten westlicher Staaten begrenzt, die inneren Konflikte in einem islamischen Staat schnell zu beenden. Das gilt auch für uns. Ohne eine darauf ausgerichtete Haltung der Nachbarstaaten wird es nicht gehen.

Es gibt eine Debatte über die Zukunft der deutschen Rüstungsindustrie. Geht es nach der Verteidigungsministerin, wird die Bundesregierung künftig nur noch Schlüsseltechnologien im Rüstungsbereich fördern, nämlich Verschlüsselungs- und Sensortechnik. Reicht das?

Bestmögliche Sicherheit für die Europäische Union gewährleisten wir am besten, wenn die 28 Mitgliedsländer ihre militärischen Fähigkeiten zusammenführen. Nicht jedes EU-Land muss alles können, aber gemeinsam muss die EU gut aufgestellt sein. Das wird nur funktionieren, wenn ein großes Land wie Deutschland etwas einzubringen hat in diese Arbeitsteilung. Wir müssen Kernfähigkeiten im eigenen Lande erhalten, auch bei Produktion und Entwicklung, schon um bündnisfähig zu bleiben.

Also mehr als nur Sensorik und Verschlüsselung?

Wir haben Produkte, um die man uns in der ganzen Welt beneidet. Warum den Bau von U-Booten aufgeben, obwohl die deutsche Industrie da weltweit führend ist? Deutschland ist ein innovativer Hochtechnologie-Standort. Wir sollten an der Spitze des Fortschritts bleiben, wo immer das möglich ist. Das ist nicht nur wirtschaftspolitisch vernünftig, sondern auch sicherheitspolitisch. Es war immer unser Ziel, uns bei der Ausrüstung der eigenen Streitkräfte nicht vollständig von anderen abhängig zu machen, sondern auf definierten Feldern eigene technologische Fähigkeiten zu behalten. Diesen Grundsatz sollten wir nicht aufgeben.

Vizekanzler Sigmar Gabriel schlägt vor, das Auswärtige Amt solle künftig anstelle des Wirtschaftsministeriums federführend über Rüstungsexporte entscheiden. Freuen Sie sich auf die neue Aufgabe?

Darüber mögen sich künftige Regierungen Gedanken machen. Für die laufende Legislaturperiode sind die Zuständigkeiten geregelt.

Zur Startseite