Kampf gegen die Terrormiliz IS: Kobane - die verlorene Stadt
Die Terrormiliz IS hat Kobane im Würgegriff. Es droht ein Massaker, warnen die UN. Der türkische Premier Erdogan will trotzdem nicht mit Truppen eingreifen – er verfolgt andere Ziele.
Knapp vier Wochen nach dem Beginn der Belagerung von Kobane durch den „Islamischen Staat“ (IS) Mitte September wird die Situation der kurdischen Verteidiger der nordsyrischen Stadt immer schwieriger. Eine Einnahme der Stadt an der Grenze zur Türkei würde dem IS einen wichtigen Sieg bescheren und die Gruppe zu Angriffen auf andere Ziele in Syrien und im Irak ermuntern, vermuten Beobachter. Gegensätzliche Interessen der USA und der Türkei sind ein Vorteil für die Extremisten. Neue Luftangriffe der internationalen Allianz in Syrien am Samstag zielten auf Stellungen des IS im Süden und Osten von Kobane. Kurdische Kämpfer wehrten in der eingekesselten Stadt einen Vorstoß der Dschihadisten ins Zentrum ab. Der IS hatte in den vergangenen Tagen Teile des Stadtgebiets erobert.
Nach UN-Angaben sind mehrere hundert meist ältere Menschen in der Stadt eingeschlossen; mehrere tausend weitere kampieren in der Nähe des türkischen Grenzzauns im Norden von Kobane, um bei einer Eroberung durch den IS rasch fliehen zu können. Der UN-Syrienbeauftragte Staffan de Mistura warnte vor einem Massaker wie in Srebrenica, wo bosnische Serben im Jahr 1995 rund 8000 muslimische Zivilisten töteten. Ankara hat Panzerverbände an der Grenze bei Kobane auffahren lassen und schickt Hilfsgüter in die eingeschlossene Stadt. Die türkische Regierung will den kurdischen Verteidigern der Stadt aber nicht militärisch helfen, weil diese mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbündet sind, die seit 30 Jahren gegen den türkischen Staat kämpft. Diese Haltung löste in den vergangenen Tagen in der Türkei schwere Kurdenunruhen aus, bei denen 33 Menschen starben.
Eine Kursänderung Ankaras ist nicht zu erwarten
Und eine Kursänderung der türkischen Führung ist nicht in Sicht. Präsident Recep Tayyip Erdogan fragte bei einer Rede am Samstag, was Kobane denn mit der Türkei zu tun habe. Yasin Aktay, Vizechef der türkischen Regierungspartei AKP, sagte der BBC, in Kobane spiele sich keine Tragödie ab, sondern lediglich ein Konflikt zwischen zwei Terrororganisationen.
Nach Einschätzung der Regierungen der USA und der Türkei ist es nur eine Frage der Zeit, bevor Kobane an die Dschihadisten fällt. Sollte das geschehen, hätte der IS ein großes zusammenhängendes Gebiet an der türkischen Grenze im Norden Syriens unter Kontrolle und könnte den Angriff auf die syrische Wirtschaftsmetropole Aleppo rund 150 Kilometer südwestlich von Kobane vorbereiten.
Auch im Irak ist der IS weiter auf dem Vormarsch. Die westirakische Provinz Anbar könnte innerhalb der nächsten zehn Tage ganz unter die Kontrolle der sunnitischen Extremisten geraten, berichtete die Londoner „Times“ unter Berufung auf irakische Behördenvertreter. In Anbar liegt der wichtige Haditha-Damm am Euphrat. Zudem könnte der IS eine Herrschaft über Anbar zur Vorbereitung eines Angriffes auf die irakische Hauptstadt Bagdad nutzen, die an der östlichen Spitze der Provinz liegt. Nach Medienberichten waren IS-Trupps am Samstag nur noch 13 Kilometer vom Flughafen Bagdad entfernt.
Auch im Irak ist der IS weiter auf dem Vormarsch
Der IS nutzt politische Vakuum-Zustände durch den Bürgerkrieg in Syrien und den Streit zwischen Schiiten und Sunniten im Irak. In den vergangenen Monaten erbeutete die Miliz modernes Kriegsgerät der irakischen Armee und verfügt zudem über Millioneneinnahmen aus dem illegalen Handel mit Erdöl. Erfahrene Ex-Offiziere aus der Armee des früheren irakischen Diktators Saddam Hussein steuern das militärische Know-How bei, während der religiöse Fanatismus vieler IS-Kämpfer für eine hohe Kampfmoral sorgt. Bisher gibt es kein Gegenrezept. Besonders die unterschiedlichen Ziele der Regierungen in Washington und Ankara machen eine ernsthafte Intervention der internationalen Gemeinschaft gegen den IS in Syrien unwahrscheinlich. Den USA geht es vor allem um den Schutz amerikanischer Interessen im Irak, unter anderem in der Ölindustrie. Dagegen dringt die Türkei darauf, den Kampf gegen den syrischen Präsidenten Baschar al Assad aufzunehmen. Ankara will zudem verhindern, dass der PKK-Ableger in Kobane und anderen Gebieten Syriens gestärkt wird. Der IS ist aus türkischer Sicht fast Nebensache – der eigentliche Feind sei Assad, argumentiert Erdogan. Für die USA und die europäischen Verbündeten geht es jedoch vor allem um den IS. Eine Ausweitung der Syrien-Mission auf die Bekämpfung der Regierungstruppen Assads kommt für sie nicht infrage. Auch türkische Pläne zur Einrichtung einer Flugverbotszone über Syrien und von Pufferzonen auf syrischem Gebiet stoßen im Westen auf Skepsis.
„Sind die türkischen Soldaten denn eure Söldner?“
Forderungen nach einem Einsatz der türkischen Armee zur Verteidigung von Kobane werden von der türkischen Regierung deshalb zurückgewiesen. „Wenn es euch so ernst damit ist, dann lasst uns das zusammen tun“, sagte Vizepremier Yalcin Akdogan am Freitagabend im Sender CNN-Türk an die westlichen Verbündeten gerichtet. Akdogan weiß sehr wohl, dass westliche Staaten ihre eigenen Soldaten nicht nach Syrien entsenden wollen. Ankara sieht in diesem Nein des Westens zum Einsatz eigener Bodentruppen bei gleichzeitig lautstark vorgetragenen Forderungen an die Türkei pure Heuchelei: „Sind die türkischen Soldaten denn eure Söldner?“