Propaganda-Video von al Baghdadi: „Der IS kämpft mit einer ernsthaften Legitimationskrise“
Terrorismusexperte Peter Neumann über al Baghdadis Video-Botschaft, die Idee eines transnationalen Terrornetzwerks und schwindende Anziehungskraft.
Herr Neumann, warum meldet sich IS-Chef Baghdadi nach langer Zeit gerade jetzt so öffentlichkeitswirksam zu Wort?
Ich glaube, da kommen zwei Faktoren zusammen. Zum einen war es in den vergangenen Monaten nicht gerade einfach für ihn, Botschaften an seine Anhänger zu übermitteln. Der Vefolgungsdruck durch die globale Anti-IS-Koalition und andere Gegner des Dschihadisten ist ja sehr umfassend gewesen. Zum anderen versteht sich al Baghdadi anders als Al-Qaida-Chef Osama bin Laden gerade nicht als einer, der regelmäßig das tagesaktuelle Geschehen kommentiert. Es gab ja von ihm bisher nur ein einziges Video-Statement. Das wurde im Juli 2014 veröffentlicht, als er in Mossuls Großer Moschee vom Predigerpodest aus das Kalifat ausrief. Aber offensichtlich war Baghdadi jetzt der Auffassung, sich gegenüber seinen Anhängern äußern zu müssen.
Um sie trotz der vielen militärischen Niederlagen zum Durchhalten zu motivieren?
Das will er sicherlich. Aber es geht ihm gleichfalls darum, zu erklären. Gerade in den vergangenen Monaten hatte der IS mit einer ernsthaften Legitimationskrise zu kämpfen. Die Anhänger der Terrormiliz stellten sich deshalb Fragen, die auf der Hand liegen: Was ist denn da los? Das ausgerufene Kalifat sollte doch 1000 Jahre Bestand haben, und jetzt ist es schon wieder Geschichte. Wie müssen wir die Ereignisse im Irak und Syrien verstehen? Hat der IS Bestand? Und nicht zuletzt: Lebt der Kalif überhaupt noch. Deshalb war es für Baghdadi so wichtig, sich zu zeigen. Und das mit passender Symbolik.
Das Abtauchen in den internationalen Untergrund macht es schwer, ihn zu bekämpfen. Andererseits ist ein 'Islamischer Staat' ohne Staat natürlich ein fragiles Gebilde mit wenig Anziehungskraft und wenig Strahlkraft.
schreibt NutzerIn Gophi
Inwiefern?
Auf dem Video ist eine Kalaschnikow zu sehen, die neben ihm an der Wand steht. Er hat sich mit einigen seiner Kommandanten umgeben. Das heißt, Baghdadi zeigt sich als Kriegsführer, will deutlich machen, dass der IS nach wie vor existiert. Aber er weist auch darauf hin, dass sich der Krieg gegen die „Ungläubigen“ verändert.
Was heißt das?
Vermutlich lautet seine Botschaft: Die Anhänger des IS müssen damit klarkommen, dass das Kalifat nicht so schnell wiederersteht. Die Organisation wird sich daher künftig auf andere Ziele konzentrieren und seine Taktik verändern. Wir verwandeln uns in ein transnationales Terrornetzwerk, das in vielen Ländern Anschläge verübt. Von Sri Lanka über Afrika bis nach Afghanistan. Der IS steht damit nicht mehr für ein quasi staatliches Gebilde, sondern für eine globale Idee, der sich jeder anschließen kann, wo immer auch lebt.
Ist das eine Rückkehr zu den Ursprüngen des IS, zum „puren Terror“?
Ja, aber es ist eben eine erzwungene Rückkehr. Den Dschihadisten hätte es sicherlich besser gefallen, wenn sie weiterhin an ihrem Staatsprojekt hätten zimmern können. Die konkrete Umsetzung dieser Utopie war ja ihr Alleinstellungsmerkmal. Doch damit ist es nun vorbei. Aus der Not heraus schlägt der IS jetzt eine andere Richtung ein.
Heißt „aus der Not heraus“, dass der IS deutlich geschwächt ist?
Die Terrormiliz ist auf jeden Fall geschwächt – und zudem an seinen eigenen Erwartungen gescheitert. Das Motto des IS lautete noch bis 2016 „Wir bleiben und breiten uns weiter aus. Ihr könnt uns an unserem territorialen Erfolg messen.“ Das hat nicht funktioniert, im Gegenteil. Aus diesem Grund versucht al Baghdadi wie der Spin doctor einer politischen Partei, die Geschehnisse umzudeuten. Das ist dringend notwendig, um sich neue Legitimität und Anziehungskraft zu verschaffen.
Warum ist das aus Sicht des IS erforderlich?
Egal, wohin man schaut: Die Zahl jener, die von den Dschihadisten als Kämpfer rekrutiert werden können, hat stark abgenommen. Der Enthusiasmus der Jahre 2015/2016 ist offenkundig vorbei.
– Peter Neumann ist Terrorismusexperte. Er lehrt am Londoner Kings College und leitet dort als Direktor das Zentrum für Studien zur Radikalisierung.
Christian Böhme