Die Retter vom Breitscheidplatz: Der härteste Einsatz seit Jahrzehnten
Nach dem mutmaßlichen Terroranschlag am Breitscheidplatz erhalten die Retter viel Anerkennung. Doch in diesen Tagen brauchen auch sie Hilfe.
Der erste Anrufer, der am Montagabend um 20.04 Uhr den Notruf der Berliner Feuerwehr wählte, berichtete von einem schweren Verkehrsunfall am Breitscheidplatz. Praktisch zeitgleich rief ein anderer Passant die 112 an mit einer „deutlich besseren Meldung“, wie es Feuerwehrsprecher Sven Gerling am Tag danach beschreibt: Ein Lastwagen sei durch den Weihnachtsmarkt gefahren, es gebe etwa 50 Verletzte, „der hat das sofort überblickt“. Und die Feuerwehr glaubte ihm, weil parallel weitere Notrufe eingingen und weil „wir erst mal jedem glauben, auch wenn es nicht immer einfach ist“, wie Gerling sagt.
Die Polizei bekam viele "Danke"-Tweets
Damit begann für die Berliner Rettungskräfte der größte und belastendste Einsatz seit der Wiedervereinigung. Ein Einsatz, den Experten und Politiker als hoch professionell beschreiben. Am Dienstagmittag twittert das Polizeipräsidium: „Wir wissen Ihre vielen #Danke-Tweets, die uns erreichen, zu schätzen, wünschen uns aber, dass sie weniger zahlreich wären. #Effizienz #Danke“. Dasselbe dann noch einmal auf Englisch.
Während die Kommunikationsabteilung der Berliner Polizei – reguläre Bürozeit werktags: bis 20 Uhr – bald nach dem Anschlag stetig und in klarer Sprache auf Deutsch und Englisch zu informieren begann, wurden am Breitscheidplatz immer mehr Einsatzkräfte zusammengezogen. Polizeipräsident Klaus Kandt berichtet von 550 eingesetzten Beamten. Weitere Auskünfte zum Einsatz der Kollegen gibt das Präsidium nicht – weil sämtliche Kommunikation inzwischen über den Generalbundesanwalt läuft und „weil Sie sich ja vorstellen können, was hier los ist“, wie eine hörbar erschöpfte Beamtin am Telefon sagt.
Die ersten Helfer standen vor einem furchtbaren Dilemma
Feuerwehrsprecher Gerling weiß vor allem um das Drama des ersten Moments nach einer Katastrophe. Gerade am Anfang gebe es „ein Missverhältnis von Verletzten zu Rettungskräften“. Fünf Minuten nach den Notrufen sei die zweiköpfige Besatzung eines Rettungswagens am Ort des Geschehens eingetroffen, unmittelbar danach der erste Notarztwagen. So war es an einer Handvoll medizinischer Helfer, zu entscheiden, wen von den Dutzenden Verletzten in all dem Chaos der zertrümmerten
Weihnachtsmarktstände sie zuerst versorgen sollten und wer warten muss. Und warten müssen womöglich gerade die, die am lautesten schreien. Weil die, die nicht mehr schreien können, vielleicht binnen zwei Minuten versorgt werden müssen, um zu überleben.
Es ist vor allem dieses furchtbare Dilemma, das den Ernstfall von der Übung unterscheidet. Und geübt worden sei mehrfach, berichtet Gerling: „Wir haben zahlreiche Fortbildungen von Kollegen zum Thema Terrorismus und Massenanfall von Verletzten.“ Die Übungsszenarien seien „schon realitätsnah“. Aber eben doch nicht die Realität.
Angesichts dieser Realität nahm die Feuerwehr jene Kollegen, die als Erste am Ort des Anschlags waren, noch am Abend aus dem Dienst. Auf ihren Wachen wurden sie von psychologisch geschulten Kollegen erwartet – ebenfalls Feuerwehrleute, wie Gerling betont. Denn für viele mache es einen Unterschied, ob sie über ihre Erlebnisse mit irgendeinem Psychologen sprechen, oder mit jemandem, der den Beruf kennt und selbst schon die Ausnahmesituation nach Katastrophen miterlebt hat. „Auch wir sind allesamt Menschen, die ein Herz haben und eine Familie.“
Personaldecke und Ausstattung von Polizei und Feuerwehr in Berlin sind seit Jahren bekanntermaßen knapp – aber sie haben offenbar ausgereicht. Die Polizei hat ihre Kräfte überwiegend über regulär im Dienst sowie in Bereitschaft befindliche Hundertschaften mobilisieren können. Die Berufsfeuerwehr, die im gesamten Stadtgebiet pro Schicht etwa 530 Rettungskräfte im Einsatz hat, verschaffte sich Luft, indem sie 14 der stadtweit rund drei Dutzend Freiwilligen Feuerwehren in den Dienst rief, um das Alltagsgeschäft zu delegieren. „In Spitzenzeiten hatten wir 168 Kräfte an der Einsatzstelle“, sagt Gerling. Etwa 120 davon hätten im Rettungsdienst gearbeitet, die anderen vor allem technische Hilfe geleistet – von der Beleuchtung bis zur Bergung Verletzter.
Während des Großeinsatzes lief das Alltagsgeschäft weiter
Parallel – und mit Unterstützung der Freiwilligen sowie der Hilfsorganisationen – lief das Alltagsgeschäft weiter in der Dreieinhalbmillionenstadt: Brandbekämpfung, Bergung von Autos nach Unfällen, Rettungswagenfahrten zu Patienten, denen nicht wohl ist.
Regulärer Schichtwechsel bei der Feuerwehr ist erst morgens um sieben. Dann haben die Rettungssanitäter mindestens zwölf Stunden Dienst hinter sich, die Kollegen auf den Löschfahrzeugen – die zwischendurch meist die Chance auf etwas Ruhe haben – 24. Dieser Dienstplan sei der knappen Personaldecke geschuldet, sagt Gerling. 1400 Einsätze fahren seine Kollegen an einem normalen Tag, 80 Prozent davon im Rettungsdienst. Die Zahl der Notrufe sei dreimal so groß wie die der Einsätze.
Notfallseelsorger betreuten rund 50 Menschen am Ort der Katastrophe
Justus Münster klingt am Dienstagmittag erstaunlich aufgeräumt angesichts der Nacht, die hinter ihm liegt. Der evangelische Pfarrer ist leitender Notfallseelsorger des Landes Berlin. Das ist seine eine halbe Stelle; mit der anderen halben ist er als Seelsorger bei den Berliner Flughäfen beschäftigt. Münster ist der Erste in der Telefonkette, die am Montagabend planmäßig aktiviert wurde. Gegen 21 Uhr bekam er den Anruf von der Feuerwehr, kurz danach waren 17 Notfallseelsorger am Tatort. 17 von etwa 150 Ehrenamtlichen aus acht Organisationen: den beiden Kirchen, den fünf Hilfsorganisationen wie Johanniter und, neuerdings, einer muslimischen Seelsorge.
„Wir haben mehr als 50 Menschen vor Ort betreut“, sagt Münster. Vor allem Augenzeugen und Angehörige, die von Feuerwehr und Polizei zu schnell eingerichteten, abgeschirmten Orten um den Breitscheidplatz gebracht worden seien. Jeder reagiere anders auf so eine Katastrophe. Manche seien unendlich traurig, in anderen koche die Wut, wieder andere „sinken in einer Ohnmacht und Fassungslosigkeit zusammen“. Die Seelsorger halten ihnen die Hand oder bieten die Schulter, hören zu, reden oder schweigen. Bessert das für die Betroffenen wirklich etwas inmitten einer solchen Katastrophe? „Ja, das ist uns bei allen gelungen“, resümiert Münster. Und dankt ebenfalls Polizei und Feuerwehr – für deren Professionalität, die sich eben auch in der schnellen Alarmierung des Kriseninterventionsteams gezeigt habe.
Gegen zwei Uhr in der Nacht sind die ehrenamtlichen Seelsorger nach Hause gefahren. Dafür haben zwei andere übernommen – bis morgens um fünf, falls noch jemand kommt, der nicht allein gelassen werden sollte.
Nun muss den Helfern geholfen werden. „Auch unsere Seele ist nicht aus Teflon“, sagt Münster. Es gebe Seelsorge für Seelsorger. Einzelsupervision sei jederzeit möglich, Gruppensupervision ohnehin vorgesehen. Damit die Beteiligten irgendwie ertragen, was schon für Unbeteiligte schwer zu ertragen ist.
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