Die Rolle der WHO in der Viruskrise: Der Gesundheitswächter zögert
Die Weltgesundheitsorganisation hält sich bislang in der Viruskrise zurück, einen Notstand hat sie bisher nicht ausgerufen. Auch weil China Einfluss ausübt?
Kompetent, locker und fast immer gut gelaunt – der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom, versteht es, die Leute für sich einzunehmen. „Nennt mich einfach Tedros“, sagt der Äthiopier. Seit Tagen dürfte die Stimmung des WHO- Chefs aber immer schlechter werden, denn er sieht sich einer schweren Krise gegenüber: der weltweiten Ausbreitung des tödlichen neuen Coronavirus mit Tausenden Erkrankungen und dem Brennpunkt China. Anfang der Woche eilte Tedros mit einer WHO-Delegation nach Peking. Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping empfing Tedros. Ein Zeichen, dass die Führung des Riesenlandes die seit Ende 2019 grassierende Corona-Epidemie inzwischen sehr ernst nimmt.
Die Visite in Peking täuscht aber nicht darüber hinweg, dass die oberste Gesundheitsbehörde der Weltgemeinschaft sich beim Krisenmanagement bislang zurückgenommen hatte. Bisher hat die WHO keinen „Internationalen Gesundheitsnotstand“ erklärt. Im Notfallkomitee hatte es vor einer Woche keine Mehrheit für eine Ausrufung des Notstandes gegeben. Tedros Adhanom, der frühere Gesundheitsminister und Ex-Außenminister Äthiopiens, verteidigt den Beschluss: „Das ist eine Notlage in China, es ist aber noch nicht eine globale Gesundheitskrise“, sagt er, „es könnte aber eine werden.“ Der Chefredakteur des britischen Gesundheitsmagazins „The Lancet“, Richard Horton, sieht hingegen Handlungsbedarf. „Das Notfallkomitee sollte dringend wieder zusammenkommen“, forderte er. Am Mittwochabend gab die WHO bekannt, dass das Notfallkomitee am Donnerstag erneut über die Notstand-Frage beraten wird.
Ruft die WHO den Notstand aus, müsste sie als höchste internationale Gesundheitswächterin in Aktion treten. Sie könnte Reisewarnungen aussprechen, Quarantänen und verschärfte Gesundheitskontrollen anordnen. Tedros würde in die Schlüsselrolle eines Arztes für die Welt schlüpfen – und müsste die Strategie dem globalen Publikum erklären. Eine derartige Aufwertung der WHO würde zulasten der Rolle Chinas gehen. Zudem könnte Präsident Xi Jinping einen internationalen Notstand, der in China verursacht worden ist, als Prestigeverlust deuten. Dabei stellen zumindest ausländische Experten den Chinesen ein ordentliches Zeugnis im Kampf gegen das Coronavirus aus. Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, Bernd Salzberger, erklärt: „So, wie wir es sehen, gehen die Chinesen auf internationaler Ebene professionell mit der Epidemie um, etwa bei der Übermittlung von Daten an die WHO.“ Im jetzigen Stadium des Ausbruchs sei es die Rolle der WHO, auf Expertenebene mit den Chinesen zu kooperieren und Ratschläge zu erteilen.
Bis 2017 leitete die Chinesin Margaret Chan die WHO
Lehnte Tedros den „Internationalen Gesundheitsnotstand“ bis Mittwoch möglicherweise ab, um die Machthaber in China nicht zu verprellen? Tedros und seine Mitarbeiter weisen den Verdacht einer Einflussnahme Chinas zurück. Allerdings verfügt die Volksrepublik in der WHO über gute Beziehungen. Von 2006 bis 2017 hatte die Chinesin Margaret Chan die Organisation geführt.
Am folgenreichsten wirken sich die Eingriffe Pekings in der Frage des WHO-Nichtmitgliedes Taiwan aus. Die Volksrepublik China sperrt sich gegen fast jede Annäherung Taiwans an die 1948 gegründete Gesundheitsorganisation der Vereinten Nationen, die Insel ist in den Augen der kommunistischen Herrscher eine abtrünnige Provinz. Somit dürfen die Taiwaner auch nicht an WHO-Meetings zum neuen Coronavirus teilnehmen – obwohl der Erreger auch auf der Insel festgestellt wurde. Mitarbeiter der WHO prangern die Taiwanpolitik der Festlandschinesen als „verantwortungslos“ an. Potenzielle globale Bedrohungen wie das neue Coronavirus könnten nur gemeinsam gemeistert werden, wenn alle Betroffenen unter dem Dach der WHO zusammenwirken.
Übernimmt die WHO die Federführung im Kampf gegen eine Epidemie, stellt sich nicht automatisch ein Erfolg ein. Seit 2018 sind an der hoch ansteckenden Tropenkrankheit Ebola im gewaltgeplagten Nordosten der Demokratischen Republik Kongo fast 2250 Menschen gestorben, trotz einer Intervention der WHO mit Hunderten Fachleuten und Impfkampagnen. „Die anhaltenden Kämpfe verschiedener Gruppen und Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen haben viele Anstrengungen gegen die Ebola zunichtegemacht“, sagt WHO-Sprecher Tarik Jasarevic. Das schlimmste Debakel erlebte die WHO in Westafrika. 2013 brach dort eine Ebola-Epidemie aus. Langsam und unbeholfen setzte sich die WHO unter der damaligen Generaldirektorin Margaret Chan mit der Krise auseinander. Rund 11300 Menschen starben in Guinea, Liberia und Sierra Leone. Eine ähnliche Katastrophe kann sich die Organisation nicht mehr erlauben.
Jan Dirk Herbermann