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Frankreich nach Europawahl 2014: Der Front National pflügt die politische Landschaft um

Der Erfolg des Front National von Marine Le Pen bei der Europawahl wurde von den etablierten Parteien in Frankreich wie ein Erdbeben empfunden. Was bedeutet das für das Land – und für Europa?

Noch nie schien Frankreich so geschwächt wie nach dieser Wahl. An diesem Dienstagnachmittag will Präsident François Hollande zum EU-Gipfel nach Brüssel reisen, um dort mit den übrigen Staats- und Regierungschefs eine Bilanz der Europawahl zu ziehen. Dabei wollen Hollande, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Co. sondieren, ob der ehemalige Luxemburger Regierungschef Jean-Claude Juncker ab Herbst neuer Kommissionschef werden kann. Allerdings dürfte Hollandes Wort bei dem Gipfel nicht allzu großes Gewicht haben. Seine Sozialisten landeten bei der Europawahl mit kläglichen 14 Prozent auf dem dritten Platz. Die große Gewinnerin in Frankreich heißt Marine Le Pen.

Am Tag nach der Wahl stellte sich vielen Franzosen die Frage, wo der Siegeslauf der Chefin des rechtspopulistischen Front National (FN) noch enden soll. Schon bei den Kommunalwahlen im März hatte der Front National stark abgeschnitten. Jetzt, bei den Europawahlen, hat er sein Wählerreservoir noch einmal verbreitert. Im nächsten Jahr stehen Regionalwahlen an, und dann zwei Jahre später jene Entscheidung, die Marine Le Pen vor allem im Blick hat: die Präsidentschaftswahlen.

Marine Le Pen als Präsidentin? Für die allermeisten Franzosen ist diese Idee unvorstellbar. Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts BVA antworteten 73 Prozent der Befragten, sie würden „auf keinen Fall“ Marine Le Pen bei einer Präsidentschaftswahl ihre Stimme geben. Und sicher muss man auch bedenken, dass bei Europawahlen wegen der geringen Beteiligung die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse im Land naturgemäß verzerrt werden. Aber für die etablierten Parteien ist es unmöglich, die Tatsache zu ignorieren, dass der Front National erstmals bei einer landesweiten Wahl zur stärksten Kraft geworden ist. Das alte Diktum des großen Politologen Alfred Grosser, dem zufolge niemand in Frankreich eine Wahl gegen Europa gewinnen könne, gilt nicht mehr.

Wer also sind die Wähler des Front National? 42 Jahre hat die 1972 von Jean-Marie Le Pen gegründete Partei gebraucht, um diesen Triumph bei der Europawahl zu erringen. Lange Zeit vegetierte sie nur als Sektierergruppe am Rande. Dann wurden die Wirtschaftskrise der achtziger Jahre, der Anstieg der Arbeitslosigkeit, die zunehmende Einwanderung und die wachsende Unsicherheit, die Frankreich seitdem erlebt, zum Trampolin ihrer ausländer- und europafeindlichen Ideologie. Mit begrenztem Erfolg zunächst. Noch 2009 musste sie sich bei der Europawahl mit 6,3 Prozent begnügen, und nie hatte sie besser abgeschnitten als mit den 11,7 Prozent von 1989.

Das änderte sich, seit Marine Le Pen als neue Parteichefin ab 2011 den Versuch unternahm, den xenophoben Rabaukenverein durch zivilisiertes Auftreten zu „dediabolisieren“. Offensichtlich mit Erfolg. Angst haben die Franzosen heute vor allem vor der Krise und den Folgen von Globalisierung und offenen Grenzen. Nur 39 Prozent halten laut einer von der Zeitung „Le Monde“ veröffentlichten Umfrage Europa noch für eine „gute Sache“.

Die etablierten Parteien sind ratlos

Dieses Gefühl schlachtet Le Pen mit ihren Parolen gegen den Euro oder das Schengener Abkommen konsequent aus. Sie sieht sich an der Spitze einer Partei, die von 43 Prozent der Arbeiter, die zur Wahl gingen, 38 Prozent der Angestellten und 37 Prozent der Arbeitslosen gewählt wurde. Mit einer Plakataktion will sie jetzt die Rolle des FN als „erste Partei Frankreichs“ unterstreichen und damit die nächste Schlacht zur Präsidentenwahl vorbereiten. Gegen Europa.

Nach dem Wahlsonntag war von den Politikern der übrigen Parteien nicht viel Erhellendes darüber zu hören, wie sie mit dem Wahlerfolg des FN umgehen wollen. Vom sozialistischen Premierminister Manuel Valls über Jean-Francois Copé, den Präsidenten der konservativen Oppositionspartei UMP bis hin zu den Grünen oder den Zentristen fiel der etablierten politischen Klasse nichts anderes ein, als von „Schock“, „Erdbeben“ oder „Katastrophe“ zu sprechen. Gerade so, als ob der Triumph von Marine Le Pen wie eine Naturgewalt über die Parteienlandschaft gekommen wäre.

Für neun Uhr hatte Präsident Hollande am Montagmorgen den Regierungschef Manuel Valls und mehrere Minister in den Elysée-Palast bestellt, um mit ihnen „die Lehren“ aus der Wahl zu ziehen, wie es in einem Kommuniqué hieß. Welche das wären, wurde mit keinem Wort bekannt gegeben. Hätte Premierminister Valls nicht vorher ein Interview gegeben, wüssten die Franzosen jetzt nicht, woran sie sind. Einen neuerlichen Kurswechsel werde es nach den jüngst eingeleiteten Reformen nicht geben, hatte Valls gesagt. Auf die Steuersenkungen für kleine Einkommensbezieher, die die Regierung noch kurz vor der Wahl versprochen hatte, sollen im Herbst weitere Erleichterungen für diejenigen folgen, für die die Abgabenlast „unerträglich“ geworden sei. Woher die Milliarden dafür kommen soll, sagte er allerdings nicht.

Auch an der angekündigten Territorialreform werde die Regierung festhalten, kündigte Valls an. Eine Auflösung der Nationalversammlung, die nach den Worten von Marine Le Pen mit zwei FN-Abgeordneten „nicht mehr repräsentativ“ sei, komme dagegen nicht in Frage. Die Einführung des Verhältniswahlrechts, wie es die FN-Chefin jetzt für Neuwahlen forderte, lehnte er ebenfalls ab.

Benommen wie die Sozialisten wirkte nach der Wahl auch die bürgerliche Rechte. Mit personellen Rivalitäten, politischen Richtungskämpfen, und Affären ihrer Führer hat die oppositionelle UMP viel Kredit verspielt. Eine Politikerin, die da aus eigener Erfahrung mitreden kann, ist die ehemalige Außenministerin Michèle Alliot-Marie. Die politische Klasse habe sich diskreditiert, gab sie zu. Die Ironie dabei: Wegen ihrer Nähe zum früheren tunesischen Regime war sie seinerzeit von Präsident Nicolas Sarkozy gefeuert worden. Nun setzte sie sich bei ihrer Partei, der UMP, damit durch, sich aufs Altenteil im Europaparlament zurückzuziehen.

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